Der 35-jährige Fritz Wunderlich hatte kurz vor seinem Tod im Jahr 1966 angedeutet, dass er bald nicht mehr singen würde. Es scheint, als hätte er in kurzer Zeit alles gegeben und dabei so intensiv gelebt, dass noch Jahrzehnte danach der Klang seiner Stimme und der Weg, den er voll Freude und doch beharrlich gegangen war, weiterhin eine unversiegte Quelle der Inspiration ist, die in die Welt hinaus sprudelt, für jeden, der bereit ist, aus ihr zu schöpfen, um etwas Eigenständiges daraus zu machen. Die Erinnerungen an Fritz Wunderlich bestehen für uns durch Ton- und wenige Filmdokumente. Seine Kindheit ohne Vater, sein pragmatischer Zugang zur Musik, sein präziser, strahlender, durch eine blinde Lehrerin geschulter, Gesang, seine intensive Rollengestaltung, seine Natürlichkeit und sein unerwartet früher Tod werden zum Ausgangspunkt und zur Inspiration für drei ganz unterschiedliche, eigenwillige Choreographien. Das erste Stück - "Sabotage" - erarbeitet der junge brasilianische Tänzer João Pedro de Paula mit seinen Kollegen der Tanz-Compagnie, das zweite - "Path" - die Ballettmeisterin Jaione Zabala, die täglich mit den Tänzern arbeitet und maßgeblich zum künstlerischen Niveau des Tanzensembles beiträgt, und das dritte - "Untitled - a step for a dancer ... a breath for a tenor" - der, an vielen großen Opernhäusern international tätige Choreograph und Movement-Coach, Helge Letonja, der einst selbst Tänzer an der Grazer Oper gewesen war. Andrea Schramek sprach mit den drei Choreographen über ihre Arbeiten zu "Wunderlich!" Zu sehen von 1. bis 17. März 2018 in der Studiobühne der Oper Graz.
João Pedro de Paula über seine Choreographie "Sabotage"
Kulturwoche.at: Alle Mitwirkenden und Verantwortlichen dieses Tanzabends wurden erst Jahre bis Jahrzehnte nach Fritz Wunderlichs Tod geboren. Sie stammen zudem aus Brasilien. Haben Sie Fritz Wunderlich vorher überhaupt gekannt?
João Pedro de Paula (Foto: © Wolf Silveri) Als der Ballettdirektor Jörg Weinöhl mich dazu einlud eine Choreographie zu erarbeiten, hatte ich noch nie von Fritz Wunderlich gehört. Meine musikalischen Wurzeln lagen nicht in der klassischen Musik, eher in der traditionellen Musik meines Landes bzw. in der amerikanischen Kultur, was heutzutage irgendwie die Kultur aller geworden ist. Als ich dann klassischen Tanz studierte, begann ich klassische Musik zu hören. Vor allem seit ich mit Jörg Weinöhl arbeite, habe ich begonnen, mich mehr dafür zu interessieren. Durch ihn bekam ich die Gelegenheit, klassische Musik aus unterschiedlichen Zeiten und verschiedener Stilrichtungen, sowie diverse klassische Sänger, zu entdecken. Die Auseinandersetzung mit Fritz Wunderlich war für mich sehr interessant, denn ich dachte zunächst nicht, dass ich so viel mit einem klassischen Sänger gemein haben könnte. Es war eine interessante Reise für mich, mich langsam in sein Leben und Werk einzuarbeiten und auf Gemeinsamkeiten stoßen, Punkte zu finden, wo wir derselben Vision folgen. Es galt herauszufinden, was wichtig für einen Tänzer ist und was für einen Sänger. Es scheint so, dass er viel Zeit in seine Arbeit investiert hat, um seinen eigenen Ausdruck, jenen der Worte und der Musik zu finden und eine Balance darin herzustellen. Es war schön, mit dieser intensiven Vorbereitungszeit eines Sängers in Verbindung zu treten und zu sehen wo da Gemeinsamkeiten zu einer Ballettklasse sind.
Wie haben Sie das nun in Ihrer Choreographie umgesetzt?
Nach dem Hören seiner Musikstücke bin ich sehr bald auf eine Aufnahme der Matthäuspassion gestoßen und ich wählte die Arie "Geduld" und "Von der Jugend" aus dem "Lied von der Erde" von Gustav Mahler. Ich fühlte sofort eine Verbindung zu dem sehr schönen Bild der jungen Frauen und des kleinen Pavillons beim See - und ich suchte einen Bezug zur heutigen Jugend. Die Kleidung, die Mahler beschrieb, ist heute sehr anders und es war wichtig für mich, diesen Kontrast zu dieser delikaten Musik herzustellen. Das Stück gab mir auch Gelegenheit eine Rolle für eine Frau zu konzipieren [Bárbara Flora; Anm.], die stark sein kann und eine gewisse Kraft und Dringlichkeit hat, zu sprechen und die anderen aufzufordern, "zu tanzen". Es geht für mich um die Beharrlichkeit, Ausdauer und natürlich auch Geduld, die nötig ist, für jemanden, der seinen Weg wirklich gehen möchte. Es geht darum, die äußeren Stimmen nicht zu beachten und ein starkes Vertrauen in den eigenen Weg zu haben. Das Lied kommt zweimal vor, weil es für mich um eine natürliche Fortsetzung geht. Ich dachte an diese vier sehr unterschiedlichen Charaktere, die einfach von der Lebenskraft in diese Linie gezwungen werden und Konflikte miteinander haben. Astrid Julen ist die Verwirrung der modernen Welt und der Jugend. Ihre Körperhaltung ist schlaff. Sie hat das Handy in der Hand und repräsentiert Unwissenheit. Und dann - das Solo, das ist die Dringlichkeit dieser heutigen Frau, die stark auftreten und sprechen muss. Daniel Myers, der nackte Tänzer, ist so etwas wie ihr Schüler. Er repräsentiert die Einzigartigkeit, das Individuum. Er ist eine Person, die erfährt und erlebt, was sie gerade hört. Für mich war das eine sehr interessante Reise, von dem Moment, Fritz Wunderlich gar nicht zu kennen - bis zu dieser intensiven Auseinandersetzung mit ihm und seiner Arbeitsweise.
Jaione Zabala über ihre Choreographie Path
Kulturwoche.at: Ihre Choreographie heißt "Path". War sein Weg "wunderlich"?
Jaione Zabala: Es gibt dieses Sprichwort "Wege entstehen dadurch, dass man sie geht". Mich hat also vor allem der Weg interessiert, den Fritz Wunderlich gegangen ist und diesen als Ausgangspunkt genommen, um von dort aus weiterzugehen, zu persönlichen Erinnerungen und Bildern. Ich fotografiere viel, und wenn ich an die Vergangenheit denke, erinnere ich mich in Momenten, in Augenblicken. Mein Stück hat daher nicht drei, sondern sieben Teile und ich wählte kürzere Musik, um Momente zu zeigen, so wie wir eben auf das Leben zurückblicken. So wählte ich letztendlich auch vor allem Musik wie Liszt und Chopin, die mich persönlich lange begleiteten. Einer dieser Momente ist z.B. der, am Anfang, wenn der Mann geht und die Frau alleine zurückbleibt. Sie bleibt alleine, aber es ist gleichzeitig auch ein Neubeginn. Ich dachte an Wunderlichs Mutter, die alleine blieb, nachdem sich ihr Mann das Leben genommen hatte. Oder auch Wunderlichs Frau, die nach seinem Tod übrigblieb. Und ich denke dabei zugleich auch an meine Mutter, denn mein Vater ist 2017 gestorben. Die Situationen sind unterschiedlich, aber wir Menschen haben dieselben Gefühle.
Fritz Wunderlich hätte ja, kurz vor Kriegsende, als Jugendlicher, noch einrücken müssen. Seine Mutter hatte ihn aber, sehr mutig, wieder aus dem Zug geholt. Es gibt daher auch einige Stellen, die auf den Zweiten Weltkrieg Bezug nehmen...
Ja, ich dachte an Wunderlichs Kindheit, die er in der Zeit des Krieges erlebte. Ich nahm Bäume auf, die projiziert werden, davor gehen Männer in einer Reihe. Sie sind wie Soldaten. Zuerst sind sie noch spielerisch, so wie junge Männer unter sich eben auch Spaß haben wenn sie von zu Hause fortfahren und es noch nicht ernst ist. Dann ersetzt langsam einer den anderen - und am Ende der sanften Musik bleiben nur zwei übrig. Für mich war das ein sehr starker Moment. Und dann fiel mir das Lied "Lilly Marleen" ein, das ich selbst oft gehört habe und damals ein Lied war, das alle gesungen haben. Alle, sowohl die Deutschen als auch die Alliierten. Und danach folgt eine fröhliche Jazz-Nummer, denn Wunderlich hatte eine Band, um Geld zu verdienen. Und es ist auch die Lebensfreude und der Erfolg, der Höhepunkt in seinem Leben, an dem es endete. Ich wählte hier moderne Menschen als Bezug zu uns heute. Man muss nicht alles verstehen. Ich möchte den Zusehern nicht sagen, was sie denken sollen, denn jeder Mensch ist und denkt anders und das ist sehr schön. Es genügt, die Schönheit darin zu sehen und es ist mehr eine Referenz wie der Gang durch das Leben.
Helge Letonja über seine Choreographie Untitled - a step for a dancer ... a breath for a tenor
Kulturwoche.at: Was hat Sie an Fritz Wunderlich berührt, das Ausgangspunkt für Ihre Choreographie wurde?
Helge Letonja: Ich war in Kusel, in seinem Heimatort, und im Fritz Wunderlich-Museum, das dort von sehr rührigen Damen betreut wird und habe viel recherchiert. Es hat mich sehr berührt, dass Wunderlich aus ärmlichen Verhältnissen gekommen ist und es da diese Mutter gab, die auch wirklich für ihn sorgte - vor allem, nachdem sich der Vater das Leben genommen hatte. Musik war für diese Familie Brot, eigentlich Lebensmittel, um Geld zu verdienen, um zu überleben [Fritz Wunderlichs Mutter erteilte Geigenunterricht; Anm.]. Wenn jemand auf diese Weise mit Musik in Kontakt kommt, sodass sie Arbeit und Überleben ist, ist das eine andere Haltung, als wenn jemand einfach so aus dem Nichts sagt: "Ich gehe jetzt in die große Oper und werde Sänger." Er hatte diese begnadete Stimme, aber sein Zugang zur Musik war ein profaner. Er war ein bodenständiger und lebendiger Mensch ohne Allüren und das war auch spürbar und das hat mich sehr interessiert. Ich arbeite auch mit großen, berühmten Sängern zusammen, auch als Movement-Coach, und ich kenne diese Welt sehr gut. Ich weiß unter welchem Stress die Leute heute stehen und wie die Karrieren vorgeschrieben werden. Interessant ist, dass für Fritz Wunderlich immer Menschen da waren, die ihm geholfen haben. Zunächst diese Lehrerin, Margarete von Winterfeld, die blind war und die ihn daher mit ganz anderen Sinnen wahrnahm. Das ist ganz besonders, wenn du da jemanden hast, der dich nur vom Timbre deiner Stimme, dem Geruch, dem Atem, erfahren kann. Das ist auch Teil der Choreographie, wo die Tänzer die Augen zu haben. Berührt hat mich auch - und darum gibt es am Anfang die Paare - wie er seine Frau, die Harfenistin war, kennengelernt und einfach gesagt hat: "Die ist es! Die schnapp ich mir!" Und dass dann eine Künstlerin sagt: "Ja, ich trete zurück mit meiner Kunst, mit den Kindern, damit du deine Kunst machen kannst." Wie oft passiert denn das heute? Es gibt eine schöne Dokumentation vom SWR, wo Eva Wunderlich spricht und man spürt keine Bitterkeit, nur Atem und Leben. Das Atmen, das Weitergeben, das Miteinander, das war ein Überthema, für das ich versucht habe, choreographisch eine Sprache zu finden.
In Ihrer Choreographie gibt es auch dieses Akkordeon. Fritz Wunderlich hat schon als Kind Akkordeon gespielt und dazu gesungen, aber das ist natürlich auch ein Instrument, das atmet. Ist der Atem das, was einen Bezug zwischen dem Sänger zu den Tänzern schafft, die sich über ihren Körper ausdrücken?
Ja, sowohl Sänger, als auch Tänzer benützen den Körper und den Atem - als ein ganz wichtiges Instrument des Ausdrucks. Man braucht Atem, damit eine Bewegung oder ein Ton, Richtung und Raum, entstehen. Wir sind uns gar nicht so fremd, wir benützen nur unser Instrument auf andere Art und Weise. Musikalität entsteht auch in dem Moment, in dem man auf andere achtet, etwas miteinander teilt. Und das habe ich in diese choreographische Recherche einfließen lassen. Dieser Versuch, dass die Tänzer im Ensemble viel mehr miteinander atmen. Wir arbeiten wirklich so mit dieser Musik, dass wir sie "eratmen". Das muss der Sänger natürlich auch. Es war etwas schwierig für die Tänzer, die Musik nur zu fühlen, zu atmen, weil sie eher gewohnt sind, zu zählen. Und dann kamen verschiedene Aspekte zusammen. Wunderlich, der für seine Präzision gelobt wird, weil er ein präziser, klarer Sänger war, der aber auch ganz tief in die Rolle eingestiegen ist und versucht hat, die Texte für sich zu erarbeiten. Er war einer der wenigen, der Arien auch auf Deutsch gesungen hat, z.B. Tosca. Das ist wirklich selten. Das war die Idee für die Stelle, wo das Ensemble mit einander atmet und diese Präzision in den Bewegungen mit den Schuhen sucht. Im Prinzip habe ich also versucht, einen abstrakteren Zugang zur Geschichte zu finden. Und immer wieder Elemente reinzuholen, die menschlich und warmherzig sind. Auch in den Kostümen, die sind leicht plissiert, wie Pergament, auf dem man was schreibt. Und die Tänzerin auf Spitze symbolisiert das Herz, weil ich glaube, dass ein Künstler ohne offenes Herz keine Kunst machen kann. Und das ist wichtig, das zu formulieren, weil es wird heute so viel Kunst gemacht, die das Herz nicht mehr zum Menschen hin hat. Das ist, was ihn unterscheidet, und was Theaterbetriebe unterscheidet. Ich finde es gut, wenn wir dahin zurückkommen. Nicht, dass es so sein soll wie früher, aber man darf nicht vergessen, wir machen unsere Kunst für andere, um die Herzen der Menschen zu erreichen. Und das ist das Essentielle.
Ein eindrückliches Element Ihrer Choreographie sind Stiefel. Was hat es damit auf sich?
Wenn man einen Stiefel ansieht, dann könnte dieser auch eine Note sein auf einem weißen Papier. Und auch am Schluss - diese Referenz zum Jagdunfall. Er ist ja angeblich über seine eigenen Schnürsenkel gestolpert und hat sich den Schädel gebrochen. Die Schuhe symbolisieren natürlich auch weiterzugehen, Fußstapfen, in die man tritt, weiterzutragen. Ich stieß in Kusel oft auf den Satz, auch von berühmten Sängern: "Es gab später keinen, der so war, keiner, der in seine Fußstapfen treten konnte." Da habe ich mich gefragt, kann das sein? Wie soll denn das gehen? Es muss doch jeder seine eigene Form finden. Das ist auch so ein Aufhänger gewesen.
Letztendlich wird auch ein Paar Stiefel aufgehängt. Ich habe einmal einen Film aus Sibirien gesehen, wo die Frauen die Stiefel des abwesenden Mannes über dem Tisch aufgehängt haben. Und so lange diese baumelten, lebte er noch.
Ja, genau. Die Inuit machen das. Sie hängen die Schuhe ins Freie und so lange, sie sich bewegen, ist er am Leben und auf dem Weg, oder auf dem Weg zurück zu dir. Es ist so ein Bild, auch um zu sagen, er ist Schritte für uns gegangen. Eigentlich geht er immer noch Schritte für uns, denn es gibt ja noch die Tonträger. Jetzt müssen andere Künstler diese Schritte gehen. Aber man muss sie auch gehen lassen. Das liegt da alles drinnen. Und das ist eigentlich das letzte Bild. //
Interview und Text: © Andrea Schramek
Fotos: Oper Graz, © Leszek Januszewski, © Wolf Silveri
Wunderlich!
Ein Phänomen - drei Choreographien
1. bis 17. März 2018
Studiobühne der Grazer Oper
Choreographie: Jaione Zabala, Helge Letonja, João Pedro de Paula
Kostüme: Silke Fischer
Licht: Sebastian Alphons
Es tanzen: Marina Schmied, Fabio Toraldo, Simon Van Heddegem, Chris Wang, Enrique Sáez Martínez, Clara Pascual Martí, Bárbara Flora, Kana Imagawa, Astrid Julen, Danie Myers, João Pedro de Paula.