In Kooperation mit Wien Modern 2012 zeigt das Theaterhaus Dschungel Wien unter der Regie von Sara Ostertag das wahnwitzige und vor Originalität sprühende Musiktheaterstück "Das Kind der Seehundfrau" basierend auf einem alten Inuit-Märchen.
Hier geht alles auf, was man sich von einem Musiktheaterstück erhofft. Mehr noch: Hier wird nicht nur ein junges Theaterpublikum angesprochen, sondern auch die Erwachsenen intellektuell gefordert. "Eine Geschichte über die schönste Sache der Welt erzählt mit Flirren, Knarren, Knacken, Johlen, Jammern, Knirschen und Jauchzen", heißt es dazu im Programmheft, und da wird nicht zu viel versprochen. Zu sehen und hören bekommt das Publikum die ganz großen Emotionen, die nicht selten ein Raunen, Aahs und Oohs auslösen, so verzwirbelt, verspielt und extravagant geht es in den 65 Minuten zu. Es eröffnen sich dabei mehrere Erzählebenen, die mit einfachsten Mitteln (z.B. per Mützentausch) stets gut nachvollziehbar sind und man so nie das Gefühl hat dem komplexen Handlungsstrang nicht mehr folgen zu können. Unter der Regie von Sara Ostertag, die in den letzten Jahren bereits mit den "Weihnachtsgeschichten vom Franz" (Christine Nöstlinger) und Momo (Michael Ende) wunderbare Inszenierungen auf die Bühne brachte, verzückt das Ensemble mit einer immensen Spielfreude und Präsenz.
Musik und Darstellung greifen hier geschickt ineinander und treiben so die Handlung stets voran. Die neue Musik vom holländischen Komponisten Jesse Broekman, der seine Stücke gerne als akustische Geofiktion umschreibt, wird von den drei Musikerinnen Jelena Popržan (Bratsche), Maja Osojnik (Flöte) und Mona Matbou Riahi (Klarinette) kongenial umgesetzt. Die großartige Sängerin Anna Clare Hauf erzeugt zudem unglaubliche Stimmungsbilder, lotet dabei menschliche Reize und Naturgeräusche aus und überzeugt auch als dritte Darstellerin neben den spannungsaktiven Michèle Rohrbach und Simon Dietersdorfer. Was aber bekommt man zu sehen? Ein einsamer Fischer verliebt sich in eine Seehundfrau, aus deren Liebe Sohn Oruk entsteht. Nach sieben glücklichen Jahren mit all der leidenschaftlichen Kraft der Sinnlichkeit muss die Seehundfrau allerdings wieder gemeinsam mit ihrem (Seehund-)Fell freigegeben werden. Die eigentliche Herkunft der Mutter wird Oruk verschwiegen, auch als es ihr mit den Jahren zunehmend schlechter geht. Aus dieser Liebesgeschichte entwickelt sich eine Geschichte über Verlust und Identitätskrisen. Nicht nur die Verwebung von Musik, Stimme, Gesang und Tanz überzeugen in dieser Inszenierung, sondern auch das effektive Bühnenbild mit den vielen Kühlschränken und Plastikfischen, die der Fortbewegung des Stücks sehr dienlich sind. Sinnlich, intelligent und emotional aufwühlend. Ein echtes Bravourstück in der österreichischen Theaterlandschaft. (Text: Manfred Horak; Fotos: Nanna Neudeck, Julia Wiggers)
Kurz-Infos:
Das Kind der Seehundfrau
Bewertung: @@@@@@
Altersempfehlung: 8+
Uraufführung mit neuer Musik von Jesse Broekman
Kritik zur Premiere am 13.11.2012 im Dschungel Wien
Regie: Sara Ostertag
Ausstattung: Nanna Neudeck, Christian Schlechter, Birgit Kellner
Lichtdesign: Severin Mahrer (DSCHUNGEL WIEN)
Kostümwerkstatt: Jennifer Podehl
Musikerinnen: Jelena Popržan (Bratsche), Maja Osojnik (Flöte), Mona Matbou Riahi (Klarinette)
Sängerin: Anna Clare Hauf
DarstellerInnen: Michèle Rohrbach, Simon Dietersdorfer