"Ich bin ein Gegner vom großen Theater. Da kann man eigentlich nur artifiziell arbeiten. Unser Zelt ist eher ein Wohnzimmer. Das ist mein Platz.", erklärte einmal der großartige Justus Neumann in einem Interview. Mit der "Alzheimer Symphonie" im Circus Elysium vor dem Dschungel Wien gibt es nun den intimsten Neumann, den es bisher zu sehen gab.
Poesie und Würde des tragischen Alterns
"Ständig muss man neu lernen, auf eine andere Weise zu leben" - dieses Zitat eines Alzheimer Patienten wird einem zur Einleitung im Programmblatt mitgegeben. Und Justus Neumann, der große Mann des Theaters mit allen Sinnen, nimmt diesen Satz als Ausgangspunkt für seine jüngste Produktion in seinem schrullig-liebenswerten Zirkuszelt, dem Circus Elysium. Und einmal mehr schafft es dieser Ausnahmeschauspieler, das Publikum in seinen Bann zu schlagen. Mit seiner präsenten Körperlichkeit, dem Sinn für ganz feine Gesten und Blicke, seinem emotionalen Griff ins Volle und einer Sprache, die alle Register bedient, von Shakespeare bis zum mehrdeutigen Ächzen und Murmeln.
Mein Rollstuhl ist mein Schloss
Wir finden uns in einer skurrilen Szenerie, wo ein älterer Mann in einem Wundergefährt verbarrikadiert ist. Diese - einmal mehr brillant von Greg Methé gebaute - Maschinerie ist der eingeschränkte Aktionsradius eines alternden Menschen und doch voller Zauber und Wunder. So wird dieser "Rollstuhl mit Einbauküche" nebenbei zum Frühstückstisch mit Eierspeisautomat, zur Duschkabine, zum Lavoir für dringend nötige Kopfwäsche, zur reduzierten Bibliothek für vergangene Zeiten und unnützes Wissen, zur Lagerstatt, zum Requisitendepot und zum Tischtennis-Center. Die Entdeckung dieses Mikrokosmos aus kleinräumigem Alltag reizt immer wieder zum spontan-herzlichen Lachen, eine witzige Welt...aber...
Der alte Mann und das Vergessen
Immer wieder gelingt Neumann dabei der Balanceakt von der spontanen Komik zur tragischen Einsicht in die Vergänglichkeit, in die Einsamkeit, ins Vergessen und vergessen werden. Diese rollende Zauberwelt ist nämlich das letzte Refugium, das dem alternden Schauspieler geblieben ist, der verzweifelt seinen früher gespielten "Lear" Monolog zu erinnern versucht. Dabei entsteht immer wieder Größe, berührende Zeilen, die aber jäh von einer hart einsetzenden Leere im Kopf unterbrochen wird. Und damit der "Lear" weiter gelingt, muss ein ganzes Depot von mnemotechnischen Hilfsmitteln heran, eine Glumpert-Sammlung könnte man meinen, doch aus fast dreißig Versatzstücken aus Hausrat und Müll wird - eins der vielen Wunder dieses phantastischen Abends - ein ganzer Shakespeare Monolog - "...blast, Winde, blast! ..."
Eine ständig neue Welt
Aber mit dem fortschreitenden Verfall der Erinnerungsfähigkeit helfen auch diese Relikte eines Gerümpelhaushalts nichts mehr, der ursprüngliche Sinn geht verloren und wir werden Zeugen, wie aus den selben Anhaltspunkten ein völlig neues, fremdes, verstörendes, vorderhand belustigendes und zutiefst tragisches Wortsammelsurium wird. Und aus dieser Kombination von Erinnerungsstücken und nun sinnentleerten Ritualen entsteht diese "ständig neue Welt" der Menschen, die sich an die scheinbar konstante "normale" Welt nicht mehr erinnern können. Die Farben werden blasser, ein Ausbruch aus dem Gefängnis scheitert daran, dass nicht klar ist, welche Tür nach draußen führt. Und so leitet uns unausweichlich diese Reduktion der Fähigkeiten und Möglichkeiten zum letzten Ausgang.
Der intimste Justus Neumann, den es bisher zu sehen gab
In dieser neuen Produktion zeigt der wunderbare Neumann diesmal weniger Berserkern, weniger die simultane Beherrschung aller körperlichen, sprachlichen und emotionalen Bühnenmittel. In seinem Spiel lässt er uns teilhaben an den ganz intimen, berührenden Momenten des Alterns. Und er tut das in seiner gewohnten Intensität, Authentizität und Kraft, besonders auch im Leisen und Zarten. Justus Neumann wagt es, eine zutiefst bewegende Geschichte zu erzählen, er wagt, einfach gut zu spielen, und er zeigt einmal mehr, dass er zu den allerbesten Schauspielern gehört. Als lebender und beharrlicher Beweis, dass die Bühne nicht nur aus Staatsgroßtheaterlicher Negation, Flapsigkeit, Abstraktion und Verleugnung aller Schauspielfähigkeiten besteht. Dass aus dem Spiel auf der Bühne das wahrhaftige Spiel des Menschen wird. Eine Glanzleistung. Und dazu passt auch das Zitat aus dem Stück: "Vergessen ist die glücklichste Erfindung, die es gibt. Weil da weiß man, dass da was war..." Ja, da war was. Ja, da ist was. Viel. Bedeutendes. Einfach gutes Theater. (Text: Tristan Jorde; Fotos: Wolfgang Kalal)
Kurz-Infos:
Alzheimer Symphonie
Bewertung: @@@@@@
Text, Schauspiel: Justus Neumann
Regie, Dramaturgie: Hanspeter Horner
Bühnenbild und Maschinen: Greg Methé
Kritik von Tristan Jorde zur Aufführung beim Dschungel Wien am 13. September 2013