Setzte sich Corinne Eckenstein in der Boyz-Trilogie mit den körperlichen, bewegungstechnischen und seelischen Problemen der Jungmännermentalität choreographisch-theatral auseinander, liegt nun im Dschungel Wien mit "Blutsschwestern" der Fokus bei den jungen Frauen.
Gleich vorweg: die fünf Darstellerinnen sind von Beginn weg - in dem sie als wilde Tiere hinter Masken verfremdet in einen tollen Tanz einsteigen - atemberaubend athletisch, schnell und kraftvoll, die Führung ihrer Bewegungen ist bemerkenswert. Und so schaffen sie auch die Umsetzung der einzelnen Sequenzen in beeindruckender Energie und Präzision, ohne in den Texteinlagen deplatziert zu wirken, ganz im Gegenteil, ihre Klagen, Aufschreie, Zweifel und Wortattacken wirken immer stark authentisch.
Für jene, die nicht auf Knopfdruck lächeln
Zunächst kommt - dem Tanztheater entsprechend - ein lediglich kurz eingesprochener und dazu choreographiert geschriebener Text als persönliche Vorstellung der Akteurinnen und Orientierung ins Geschehen. Und schon da wird klar, dass überkommende Rollenzuschreibungen der Frauen Sache nicht sind. Die Regisseurin und Choreographin Corinne Eckenstein, die ab der Saison 2016/17 als Leiterin den Dschungel Wien neu positionieren wird, vertraut ganz auf die Macht der rhythmisierten, wohleinstudierten Bewegung. Auf einer auf das Notwendige reduzierten Bühne mit Kleiderturm, fünffingriger Lampeninstallation sowie beweglichen Gerüsten und Kleinteilen (wie Waschmaschinentrommeln) kommen die oftmals artistischen Fähigkeiten der Darstellerinnen ausladend zur Geltung. Die fetzige, manchmal technoid-synthetische Musik von Sue-Alice Okukubo verstärkt bedrohlich noch die Wucht des synchronisierten Ausdrucks. Die einzeln voneinander abgesetzten Bewegungs-Sequenzen ("Bilder") sind immer wieder rasant, witzig, kräftig und heftig. Auch bei den Themen, "die sich für Mädchen und Damen nicht gehören" (div. Körperhaltungen und -geräusche), schaffen es die fünf "Blutsschwestern", gleich einer Straßenbande, miteinander Spaß zu haben und dabei die peinlichen traditionell-femininen Rollenzuschreibungen mit Witz und Verve zu pulverisieren.
Baby ist nicht mein Name
Immer wieder kommen auch die Themen Schönheitsideale und -zwang, Missbrauch, öffentliche Demütigungen, Sich-ausgestellt-Fühlen ("Baby ist nicht mein Name") vor. Dabei werden belehrende Zeigefinger vermieden und auch für härtere Emanzipations-Indolente wird die Peinlichkeit und die Brutalität solch traditionell-männlicher Verhaltensweisen drastisch vorgeführt. Bei einer dieser Erzählungen schafft es Caroline Weber in geradezu unglaublicher Weise artistische Reifen-Gymnastik auf Weltniveau mit einem plaudernden Monolog über Erlebtes und Unerfreuliches zu kombinieren - eine wohl in dieser Art einzigartige Leistung von hoher Virtuosität. Sehenswert als Bild, sehenswert als eindrückliches Plädoyer für selbstbestimmte, offensive Weiblichkeit. Auch die anderen Monologe sind durchgehend hochwertig zwischen Verletzlichkeit und Zorn. Bei Tänzerinnen nicht oft anzutreffen und schon gar nicht selbstverständlich. Ein weiterer Höhepunkt ist die vom gesamten Ensemble in Bewegungs-Karaoke umgesetzen Dialoge mit stupidesten Klischeesätzen aus Fernsehserien oder mittelklassigen Hollywood-Filmen, die über Band eingespielt werden. Hier sind alle fünf von großer Präzision, die wiederum tiefen Witz erzeugt.
Stark, schnell, kraftvoll, weiblich
Die Gesten, Bewegungen, Choreographien, Kämpfe und Artistik-Einlagen sind durchgehend von einer Wucht und Stärke, die wohl sonst nur bei "Männer-Choreographien" zu sehen wären. Sehr starke Frauen, sehr wohltuend. Und das nicht nur bei einer verblüffenden Body-Percussion Einlage der Bande, mit nackter Haut am Boden. Und aus dieser Kraft ist auch das Finale mit offensiver Nacktheit kein bisschen Schwäche, Tradition oder Unterwerfung eines Klischees. Dramaturgisch ist es eine Bilderrevue, da hätte vielleicht eine große Geschichte im Hintergrund als verbindender Faden noch etwas intensiver gewirkt, aber der Abend ist in keinem Moment zerfahren und schon gar nicht mit Längen versehen. Diese Frauen sind so stark, dass unsere gemeinsame Zukunft abseits von eingeschworenen Geschlechterrollen höchst lebenswert erscheint. Hingehen, ansehen, lernen, genießen. //
Text: Tristan Jorde
Fotos: Rainer Berson
Kurz-Infos:
Blutsschwestern
Bewertung; @@@@@
Wiederaufnahme April 2017
Kritik zur Aufführung im Dschungel Wien am 27. Oktober 2015
Regie, Konzept, Choreographie, Raum: Corinne Eckenstein
Kostüm: Andrea Simeon
Musik: Sue-Alice Okukubo
Fotos, Video: Rainer Berson
Produktion: Alexandra Hutter
Theater Foxfire & Dschungel Wien