Großformatige, aufsehenerregende, international beachtete Theater- und Opernproduktionen waren im vergangenen, ersten Jahr unter dem neuen Festwochen-Intendanten Tomas Zierhofer-Kin kaum noch zu sehen. Sein Programm verstärkt dafür (Club)-Musik, Visual Arts und Performance. Als Zugeständnis an das langjährige Festwochen-Fanpublikum kann wohl heuer die Arbeit des Jung-Regisseurs Ersan Mondtag gesehen werden, der erstmalig in Österreich zu Gast war, mit "Die Orestie". Der Deutsche mit türkischen Wurzeln wurde im Jahr 2016 vom Fachmagazin Theater Heute zum Nachwuchsregisseur des Jahres gekürt.

Rache, Gewalt und Recht

Aischylos' "Die Orestie" - die einzige erhaltene griechische Tragödien-Trilogie - wurde erstmals 458 vor Christus aufgeführt. Sie handelt vom Übergang der von Mord und Rache getriebenen Herrschaft der Götter zur Demokratie - der Herrschaft und Rechtsprechung durch das Volk. Ersan Mondtags Inszenierung des antiken Stücks verweist auf Risse in der demokratischen Ordnung, die heute sichtbar werden. In seiner musik-theatralen Inszenierung spielt der Regie-Jungstar mit Kontrasten, groteskem Humor, filmisch plakativen Szenerien, einem Gesangschor (Musik: Max Andrzejewski) und einem höchst spektakulärem Bühnenbild. Paula Wellmanns Bühne holt die antike Tragödie aus der Historie in die Gegenwart. Der Regisseur befragt damit die Gefahren, die seit der Geburtsstunde der Demokratie auf dieses fragile Gebilde einwirken und deren Schwachpunkt nichts weniger als der Mensch selbst darstellt. Oder ganz wie man es deuten möchte: der abgehängte Mensch, der in den Sozialwohnungen eine vergessene Parallelexistenz lebt und in dem sich allerhand zusammenbraut.

Ratte Mensch

In ein zu Beginn noch antikes Setting lässt der Regisseur anstelle von Menschen Ratten treten. Josa Marx hat den wunderbaren Schauspielern und Schauspielerinnen des Hamburger Thalia Theaters spitze Nasen, teilweise haarige Kostüme, lange Barthaare und rosa Brillen verpasst. Diese solcherart stilisierten Figuren drehen sich im ersten Tragödienteil auf einer kleinen Drehbühne vor einem dreistöckigen antiken Prospekt [gedrucktes Bühnenbild, das ein antikes Gebäude zeigt; Anm.] in musealer Erstarrung im Kreis. Sie erzählen - zum Teil chorisch - von Agamemnon, der in den Krieg gegen Troja zieht und zur Besänftigung der Götter seine Tochter Iphigenie opfert. Als er siegreich zurückkehrt, ermordet ihn seine Frau Klytaimnestra (Marie Löcker) aus Rache. Ihr Geliebter Aigisth (Paul Schröder), der ebenfalls Blutschuld durch Agamemnons Vater rächen will, steht ihr bei. Nach dieser Tat stürzt die antike Fassade unter krachendem Getöse in sich zusammen. Dahinter verbirgt sich eine spiralförmige Garagenauffahrt in drei Ebenen, auf der ein höchst eindrucksvoller Chor mehrstimmige Gesänge anstimmt. Nun setzt sich die Erde in Bewegung - die gesamte Drehbühne im Theater an der Wien beginnt sich langsam um ihre Achse zu drehen und entblößt an der Rückseite ein Plattenbau-Gebäude, aus dessen Fenstern - nun ja, die Ratten-Menschen blicken. Aus einer museal stilisierten Antike wird eine filmisch stilisierte Gegenwart. Krähen schreien, Hunde kläffen, ein Gewitter braut sich zusammen - aus Rache wird Rache geboren, das Unheil setzt sich fort.

Die Demokratie - ein fragiles Gebilde

Ersan Mondtag nähert sich dem Klassiker im zweiten Teil mit horrorfilm-tauglicher Ästhetik, gebrochen durch groteske Einschübe - welche mittels Humor Distanz zum Geschehen schaffen: Orest, Agamemnons Sohn, von Sebastian Zimmler groß in Szene gesetzt, schleicht zum Grab seines Vaters, im Hintergrund die Balkone des Sozialbaus. Seine Schwester Elektra - grotesk überzeichnet durch Björn Meyer - hetzt ihren Bruder auf, der Chor ruft "Rache!". Immer wieder vereinnahmt Mondtag das Publikum als Verbündeten - "Verratet nichts!" - raunt Orest, der zaudert, bevor er Aigisth und seine Mutter mit einem Hackbeil ermordet. Im finalen Teil wird Orest von den Erinyen - den Rachegeistern - zermartert und flieht zu Athene (Chaterine Seifert), die ein Gericht einberuft, in dem sie dem Richtspruch der Götter den der Bürger vorzieht. Sie beschwört diese, verantwortungsvoll zu entscheiden. Allerdings zeigt die Zählung der Stimmen einen Gleichstand und Athene gibt mit ihrer Stimme den Ausschlag zum Freispruch Orestes. Der Kreislauf um Mord und Rache ist damit zwar unterbrochen, aber im Hintergrund der Bühne wird schon wieder eine aufgebrachte Meute von Hetzern angestachelt. "Die Orestie" feiert die Geburtsstunde der Demokratie mit einer Warnung versehen. Ersan Mondtag beleuchtet, im 21 Jahrhundert angekommen, diese aus Sicht der aufkommenden Ungleichheit, eine der Schwachstellen dieser Errungenschaft. Hinter den Fenstern lauern die Wohlstandsverlierer und die Hetzer stehen schon bereit. Gebrechlich ist dieses Gebilde, denn das Gleichgewicht der Stimmen kann jederzeit kippen. //

Text: Veronika Krenn
Fotos: Armin Smailovic

Kurz-Infos:
"Die Orestie" von Aischylos
Nachdichtung und szenische Bearbeitung von Walter Jens
Bewertung: @@@@@
Kritik zur Aufführung am 21.5.2018 im Rahmen der Wiener Festwochen

Regie Ersan Mondtag
Dramaturgie Matthias Günther
Bühne Paula Wellmann
Kostüme Josa Marx
Musik Max Andrzejewski
Chorleitung/Gesangseinstudierung Uschi Krosch
Musikaufnahme Richard Koch (Trompete), Matthias Müller (Posaune), Henrik Munkeby Nørstebø (Posaune), Gerhard Gschlößl (Posaune)
Geräuschdesign Florian Mönks
Mit Marie Löcker, Björn Meyer, Thomas Niehaus, Paul Schröder, Cathérine Seifert/Oda Thormeyer (alternierend), André Szymanski, Sebastian Zimmler
Gesangschor Lars Böttcher, Marianne Bruhn, Franziska Buchner, Martin Conrad, Minou Djalili, Ines Eberlein, Marta Frankenberg Garcia, Clemens Heise, Pauline Jacob, Marja Kaiser, Norbert Kijak, Günter Kochan, Ursula Krosch, Dustin Leitol, Harald Lieber, Ann-Kathrin Quednau, Inga Renz, Helena Rowinski, Marvin Sawatzki, Judith Schwendiger, Qiong Wu