Tom Waits hören in anderen Stimmlagen - Woyzeck im Originaltext erleben - das geht zusammen bei der aktuellen Produktion am Vorarlberger Landestheater und ist berührend, unterhaltsam, brisant.
1836 – 1913 – 2000 - 2020
1836 begann Georg Büchner Woyzeck zu schreiben, basierend auf diversen realen Begebenheiten, wie beispielsweise dem Erbsbrei-Experiment, das an Soldaten durchgeführt wurde. Sein früher Tod 1837 verhinderte eine Fertigstellung.
Idealistisch, radikal und revolutionär zeichnet Büchner die Gesellschaft seiner Zeit als von Ausbeutung, Machtmissbrauch und falscher Moral geprägt.
1913 fand die Uraufführung des Stückfragments am Münchner Residenztheater statt, auf beharrliches Betreiben von Hugo von Hoffmannsthal.
Der gesellschaftskritische Inhalt wurde also beinahe hundert Jahre später in einer eigentlich unverändert ungleichen und ungerechten Gesellschaft auf die Bühne gebracht.
Blood Money
Im Jahr 2000 willigte Robert Wilson auf den Vorschlag von Tom Waits und Kathleen Brennan ein, die von ihnen vom Woyzeck-Fragment inspirierten Lieder zu inszenieren. Uraufführung ist am Betty Nansen Teatret in Kopenhagen. Wilson schuf ein streng konzipiertes Art Musical mit durchdachten Bildkompositionen, in denen sich das ebenso konzeptionelle Spiel der Darsteller im starken Kontrast zu den emotionalen Liedern des Albums "Blood Money" von Tom Waits und Kathleen Brennan mit dem originalen Text von Büchner zu einem Gesamtkunstwerk verband. Die Gesellschaft hat sich weiterentwickelt, vor allem die Gesetzeslage verspricht größere Gerechtigkeit. Die Ungleichheit zwischen Arm und Reich jedoch bleibt unverändert. Unten ist es ein bisschen bequemer geworden, oben noch luxuriöser.
Mut zur Neuerung
2020 eröffnet Stephanie Gräve, Intendantin am Vorarlberger Landestheater, die Spielsaison mit Woyzeck. Ihre Intendanz zeichnet sich von Beginn an durch Politikbewusstsein und Mut zur Neuerung aus. Die gesellschaftlichen Zustände scheinen ausgewogen zu sein. Chancengleichheit, Menschlichkeit, christliche Werte werden allerdings in der österreichischen Politik in einem Meer von Worthülsen ertränkt oder mit griechisch-chorischen PR-Aktionen übertüncht.
Misery is the River of the World
Gleich zu Beginn erfolgt die Klarstellung, dass es in dieser Bearbeitung von Woyzeck kein Happy End geben wird. Mit Ausrufer (Katrin Hauptmann), Jahrmarkttrubel, Varieté-Glitzer und der Fragestellung, ob der Mensch sich vom Tier wirklich durch seine postulierte Vernunftbegabung unterscheidet. Das Ensemble des Vorarlberger Landestheaters zeigt auch gleich, dass es alle gesanglichen und tänzerischen Fähigkeiten für den Wilson/Waits/Brennan-Woyzeck mitbringt.
Coney Island Baby goes to hell
Marie (Vivienne Causemann) wechselt ihre Kleidung, tauscht das unschuldige weiße Gewand gegen ein leichtes rotes Kleid. Marie, die Schöne, die Hitzige, die in Versuchung geführte, Bereuende, dem Tod Geweihte. Sie singt "Everything goes to Hell" und ist damit wohl eine der klarsichtigsten Figuren im Stück. Zuhause bleiben, am Hungertuch nagen, keine Aussicht auf Verbesserung vor sich, mit einem Kindsvater, der immer eigenartiger wird, in den Wahnsinn abdriftet. Da entschließt sie sich zu feiern, sich zu nehmen, was sich ihr bietet und zwar nach ihren Regeln. Sie scheitert, wird zur Trophäe. Ihre Reue ist nutzlos. Als schwächstes Glied in der Gesellschaft hat sie zuerst zu sterben. Großartig verrucht und desillusioniert dargestellt von Vivienne Causemann.
All the World is Green
Erbsenkur, Hetzen von Job zu Job, Erniedrigung und Verachtung standhaltend, sich allem unterwerfend, so ist Woyzeck. Kraft gibt ihm sein Stern, die Überhöhung seiner geliebten Marie, Zentrum seines Lebens. Die Dämonen in der realen Welt und in seinem Kopf zerstören aber dieses heilige Bild, Woyzeck vernichtet es endgültig durch seinen Mord. Selbsttötung durch Ertrinken wird in der Inszenierung nahegelegt. Berührend Felix Defèrs Darbietung des "Coney Island Baby" und im Duett mit Luzian Hirzel (als Freund Andres).
Gods away on business
Sie sind von Stand, haben Rang und Namen. Hauptmann (Jürgen Sarkiss), Arzt (David Kopp) und Tambourmajor (Nico Raschner) reden von Moral, Wissenschaft, Schönheit, zeigen aber nur Neid, Ruhmsucht und Machtgier. Sie bemerken nicht, dass alles was sie glauben zu sein, alles was sie für sich erhoffen, nicht aus ihnen selbst erwächst. Sie beziehen ihren Selbstwert über das Radfahrerprinzip: nach unten treten. Ohne dieses Unten aber stürzten sie ins ewige Nichts. Überzeugend in diversen Konstellationen, Rollen, Gesängen und auch am Instrument.
Es war einmal ein armes Kind ... Lullaby
Poetisch-melancholisch endet die Inszenierung am Vorarlberger Landestheater von Tobias Wellemeyer mit einem wunderbar vorgetragenen Lullaby von Maria Lisa Huber als Karl, der Idiot. Er nimmt sich des Kindes an, singt ihm ein trauriges Schlaflied. Die Welt dreht sich, die Zeit vergeht, alles bleibt gleich. Bereits der Herr sprach: Lasset die Kleinen zu mir kommen... //
Text: Ruth Kanamüller
Fotos: Anja Köhler
Kurz-Infos:
Woyzeck
Robert Wilson/Tom Waits/Kathleen Brennan
nach Georg Büchner
Regie: Tobias Wellemeyer
Bühne und Kostüm: Ines Burisch
Musik: Tilman Ritter
Choreographie: Marita Erxleben
Dramaturgie: Ralph Blase
Mit: Vivienne Causemann, Felix Defèr, Katrin Hauptmann, Luzian Hirzel, Maria Lisa Huber, David Kopp, Nico Raschner, Jürgen Sarkiss
Musiker: Stefan Halbeisen, Levent Ivov, Stephan Reinthaler, Tilman Ritter
Premiere:
Samstag, 19. September 2020, 19.30 Uhr, Großes Haus
Termine:
Do 8.10. / Sa 24.10. / Mi 28.10. / Fr 13.11., jeweils 19.30 Uhr, Großes Haus