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identities-freier-fallVor zwei Jahren war "Romeos" als wirklich guter deutscher Film beim Festival identities zu sehen. 2013 ist es Stephan Lacants "Freier Fall". Nachdem der Film bereits auf der Berlinale sehr gelobt wurde, war sicherlich bei vielen im Publikum eine sehr hohe Erwartung an den Film geknüpft. Das Filmcasino war bis auf den letzten Platz besetzt.

Enttäuscht hat dieser Film nicht. Starke Bilder sind es, die vor allem den inneren Konflikt von Marc zeigen. Viel Sprache braucht dieser Film nicht. Sehr körperlich werden Begehren, Ängste, Verzweiflung und Hoffnung dargestellt. In Freier Fall spielt Regen eine wichtige Rolle. Immer wenn etwas Wichtiges passiert regnet es und Marc setzt seinen Körper immer wieder erbarmungslos diesem Regen aus.

Freier Fall ist ein Film übers Laufen

Marc läuft davon. Wird er etwas gefragt antwortet er nicht oder nur ausweichend, lenkt ab und stellt Gegenfragen. Beim Laufen selbst geht ihm schnell die Luft aus. Marc weigert sich selbst zu handeln und Entscheidungen zu treffen. Während er versucht es allen recht zu machen verrennt er sich in Lügen. Lange ist er zu feige seiner Freundin Bettina von seinem Verhältnis mit Kay zu erzählen. Lieber will er, dass sie ihm ins Gesicht sagt, dass sie es weiß oder ahnt, bevor er es selber aussprechen muss.

Grenzen austesten

Der Übergang von rein sexuellen Begegnungen im Wald, zu Zärtlichkeit, Liebe und schließlich den Schlüsseln zu Kays Wohnung, ist fließend. Kay ist sehr direkt und weiß was er will und was nicht. Er ist gefestigter als Marc, dem er immer wieder sagt, dass er ihn liebt und der es nicht mit Worten erwidern kann. Kay ist eine handelnde Figur, er zögert nicht, so wie Marc es tut. Nachdem die beiden Polizisten sich auf einer Fortbildung kennengelernt haben, lässt Kay sich kurzerhand in Marcs Einheit versetzen. Max Riemelt verkörpert Kay als einen frechen, humorvollen Menschen, der Grenzen austestet und sich, ganz im Gegensatz zu Marc, weder um Vorschriften, noch darum was andere von ihm denken, viele Sorgen macht.

Homophobe Schikanen

Marc wiederum trifft seine Entscheidungen immer erst, wenn es bereits zu spät und Situationen bereits eskaliert sind. Bettina sagt er erst die Wahrheit, als sie bereits mit ihrem gemeinsamen Sohn zu Freunden gezogen ist und erst als Kay verschwunden ist, steht er zu ihm. Marcs Zerrissenheit wird in Hanno Kofflers Spiel deutlich spürbar. Er zeigt Marc als eine Figur, die vieles will und Sehnsüchte hat, sich aber zugleich immer anpassen und gemocht werden möchte, die niemanden verletzen will  und daran scheitert. Kay geht genauso wenig aus seinen Gedanken wie die verschüttete Farbe aus dem Teppich des neuen Kinderzimmers. Doch Marcs Lauf gewinnt im Film immer mehr Atem. Ein Wendepunkt ist die erste homophobe Schikane gegen Kay durch einen Kollegen bei der Polizei. Marc greift für Kay ein. Ab diesem Moment wird er stärker, wächst, sagt die Wahrheit und entwickelt sich. Doch für Kay und auch für Bettina kommt seine Entwicklung zu spät.

Tragisches Liebespaar

"Freier Fall" zeigt keine eindimensionalen, sondern sehr facettenreiche Figuren. Auch Bettinas (Katharina Schüttler) Situation wird gefühlvoll dargestellt. Ihre Figur wird in diesem Film nicht an den Rand einer Liebesgeschichte gedrängt, sondern erhält genügend Raum um zu begreifen, dass immer mehrer Menschen mit verschiedensten Bedürfnissen und Gefühlen in eine Liebesgeschichte verwickelt sind, in der eine Person die betrogene ist. Bettina ist eine sehr differenziert dargestellte Figur. Sie ist hoch schwanger und plötzlich verändert sich das Verhalten ihres Partners völlig. Es geht nicht vorrangig darum, ob Marc sie betrügt, vielmehr geht es um das Zusammenleben, das unter einer Lüge unerträglich angespannt wird. Von Marcs tatsächlicher Affäre erfährt sie erst, als sie ihn bereits verlassen hat. Und sie kehrt ins gemeinsame Haus zurück, um sich mit Marc auseinander zu setzen. Marc und Kay sind ein tragisches Liebespaar, jedoch geraten auch Bettina und das neugeborene Kind nicht zu Nebenfiguren. Bettina ist eine starke Frauenfigur, die den Menschen Marc nicht hasst für seine Liebe zu Kay, die jedoch zutiefst verletzt zurückbleibt.

Wegschauen und Gewalt billigen

Nicht zuletzt ist "Freier Fall" auch ein Film über Homophobie und harte Strukturen bei der Polizei. In Marcs und Kays Einheit wird von der gegebenen Heterosexualität aller ausgegangen und über weibliche Kolleginnen werden in der Umkleide sexistische Witze gemacht. Als sich herausstellt, dass einer aus der Einheit schwul ist, reagiert einer der Kollegen mit offenem Hass, der in Schikanen und schließlich in Gewalt mündet. Die Einheit schaut weg, billigt die Gewalt gegen Kay stillschweigend. Erst als auch Marc zusammengeschlagen wird, handelt der Gruppenführer endlich.

Hoffnung auf neue Möglichkeiten

Der Film endet, wie er begonnen hat, bei einem Trainingslauf. Musste Marc jedoch am Anfang des Films noch kraftlos aufgeben, hat er nun viel mehr Ausdauer und Kraft, beim Laufen und im Leben. Freier Fall endet mit großen Verlusten, jedoch auch mit Hoffnung auf neue Möglichkeiten. Es ist ein offenes Ende, nach einem Film, der einen Ausschnitt aus Marcs Leben zeigt, einen Wendepunkt, nachdem alles möglich ist. (Katharina Fischer)

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Film-Infos:
Freier Fall
Deutschland 2013, 100 Minuten
Filmfestival identities
Bewertung: @@@@@
Kritik zur Vorführung am 9.6.2013 im Filmcasino Wien

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Regie:
Stephan Lacant
Buch: Stephan Lacant, Karsten Dahlem
Kamera: Sten Mende
Schnitt: Monika Schindler
Redakteurin: Stephanie Groß, SWR
DarstellerInnen: Hanno Koffler, Max Riemelt, Katharina Schüttler, Maren Kroymann, Oliver Bröcker, Stephanie Schönfeld