Regisseur Jesse Eisenberg schickt uns auf eine Reise in die schreckliche Vergangenheit des Holocaust und entführt uns im Spielfilm "A Real Pain" einfühlsam in ein Spannungsfeld der Melancholie und des Humors.
Das Erzählen einer Geschichte
Das Kino und der Film haben keinen inhärenten Zweck, kein für alle Filme geltendes Ziel oder eine anwendbare Struktur. Allerdings gibt es einen Aspekt, der alle filmischen Werke miteinander verbindet: Das Erzählen einer Geschichte. In jeder möglichen Ausprägung und jedem Genre ist das Medium Film ein visuelles Erzählen von Geschichten. Genau das ist "A Real Pain" auch, und zwar in seiner reinsten Form. Das Regiedebüt von Jesse Eisenberg ("The Social Network", 2010) hat keine großartigen Spezialeffekte, keine zur Immersion [ein vollständiges Eintauchen in die fiktionale Welt, wodurch das Publikum das Gefühl hat, direkt Teil der Handlung zu sein und die Umgebung zu vergessen; Anm.] eintauchende fremde Welt oder möchte gesellschaftlichen Diskurs anregen. Es ist eine Reise zwischen Melancholie und Humor, die uns so feinfühlig und authentisch an die Hand nimmt, dass wir obgleich der düsteren Thematik mit einem Stück Optimismus aus dem Kinosaal gehen.
Die Farbe in der Dunkelheit
Es ist ein Optimismus, der uns während der Laufzeit von 90 Minuten stets begleitet, aber dauerhaft von der eigentlichen Szenerie überschattet wird: Der Beschäftigung mit dem Holocaust. Die beiden ungleichen amerikanischen Cousins David und Benji begeben sich auf eine Reise in die Vergangenheit ihrer Großmutter und möchten ihr, nach deren Tod, an ihrem Geburtshaus in Polen die letzte Ehre erweisen. Die Folge ist eine voller Empathie und Gefühl strotzende Tour durch das jüdische Schrecken des Zweiten Weltkrieges. Jesse Eisenberg, neben der Regie auch für das Drehbuch verantwortlich, zeichnet mithilfe des polnischen Kameramannes Michał Dymek einen Ausflug in die Düsternis, konterkariert das aber mit einer durch die Bank warmen Bildsprache. Generell ist die Expedition durch Polen kein rein düsteres Drama, sondern gekennzeichnet von warmem Humor. Allen voran Kieran Culkin ("Succession"; Fernsehserie 2018-2023) stiehlt im Rahmen des Farbspiels allen Oscar-verdächtig die Show. Das Hin und Her der visuellen Farbdynamik, das ständige Wechselspiel aus Drama und Witz bündelt sich in seiner Figur Benji. Dieses Auf und Ab spiegelt sich jedoch auch in unserer Wahrnehmung von Benji wider. Wir lieben seinen Charme und seinen Witz, verachten ihn aber teilweise für seine unangebrachte Ekstase und Arroganz. Es ist eine Performance, die unweigerlich im Gedächtnis bleibt, weil sie derart authentisch und real wirkt. Das ist genau, was die Suche nach der Farbe in der Dunkelheit, die "A Real Pain" darstellt, besonders auszeichnet: Authentizität.
Die Abkehr vom Uncanny Valley
Wir alle kennen es: Eine Szene, eine Figur oder ein Handlungsstrang ergibt einfach keinen Sinn. Charaktere werden mit viel zu viel Pathos geschrieben, bedeutungsschwangere Dialoge prägen das Drehbuch oder visuelle Ungereimtheiten schmeißen uns aus der Immersion. Geschichten versuchen künstlich die Realität zu imitieren, scheitern aber oft um Haaresbreite. Im Zusammenhang mit Animationen, Bildern oder menschenähnlichen Robotern wird vom "Uncanny Valley" [das Phänomen, dass menschenähnliche Roboter oder Animationen zunehmend unheimlich wirken, je realistischer sie aussehen, bevor sie als vollständig menschlich empfunden werden; Anm.] gesprochen. Genau dieser "Krankheit" in der modernen Filmkunst geht "A Real Pain" vollends aus dem Weg. Es ist einer der authentischsten Filme des Jahres. Keine einzige Szene des Films vermittelt den Eindruck einer Fiktion, einer erfundenen Geschichte. Jesse Eisenberg hat ein Drehbuch geschrieben, welches so unmittelbar menschlich adaptiert wurde, dass uns diese Geschichte von unseren Großeltern auf dem Sofa erzählt werden könnte. Jede Emotion ist spürbar, wahrhaftig und real. Jede Freude, jegliche Trauer und alle Konflikte sind glaubwürdig. Im Farbspiel des warmen Zusammenhalts der beiden Cousins und der kalten düsteren Vergangenheit ist auch der Schmerz echt. A real pain. //
Text: Tobias Schwaiger
Fotos: Viennale
Die Filmkritik entstand im Rahmen der Viennale 2024
Film-Infos:
A Real Pain
Regie und Drehbuch: Jesse Eisenberg
Kamera: Michał Dymek
Schnitt: Robert Nassau
Ausstattung: Mela Melak
Mit: Jesse Eisenberg, Kieran Culkin, Will Sharpe, Jennifer Grey, Kurt Egyiawan
Produktion: Topic Studios, Extreme Emotions, Fruit Tree
Weltvertrieb: Searchlight Pictures
Verleih in Österreich: The Walt Disney Company (Austria) GmbH
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