Es ist ein großes Privileg in einer Stadt mit einem renommierten Filmfestival zu wohnen. Man hat den Vorteil - hautnah und gar nicht immer angenehm! - den Puls der Zeit zu erleben - und das weltweit. Indem man 2- bis 600-minütige Einblicke bekommen kann in persönliche Statements, Visionen, in Aufarbeitungen der Geschichte bzw. des eigenen momentanen Erlebens von Filmschaffenden, ohne dass sie irgendeinem "Markt" gerecht werden müssen bzw. wollen. Von Stephanie Lang.
Ein Festival birgt zum einen die seltene Chance Filme zu sehen, zu entdecken, die nirgendwo anders gezeigt werden, als eben auf den dafür geschaffenen Festivals, da sie wie gesagt für keinen Markt ‚designed' sind. Es sind oft ungestylte, pure Aussagen über Geschehnisse, die scheinbar unbedeutende Menschen betreffen. Oder wilde künstlerische Würfe, die man öfter sehen muss/sollte, um ihre ganze Dimension erfassen zu können. Wie bei einem Bild in einer Ausstellung. So hat man zumindest von der Existenz dieses Werks erfahren. Ein Beispiel: "Als unsere Lieder noch wild & gefährlich waren" von Herbert Schwarze. Er dauert nur 7 Minuten und erzählt dabei auf 4-5 verschiedenen Ebenen gleichzeitig. Das möchte man noch mal sehen.
Zum anderen kann man auch größere Produktionen erwischen, die wie ein Rohdiamant bewusst ungeschliffen gelassen wurden. Dadurch finden sie oft keinen Kinoverleih, da für die Einen zu unkonventionell und für die Anderen zu angepasst. Wie es ein mitgehörtes Gespräch im Kinoausgang auf der diesjährigen Berlinale deutlich macht:
Er: "Und, wie fandest Du den Film?!" Sie: "Gut. Aber verkaufen möchte ich ihn nicht müssen."
Im Allgemeinen hat ein Kinogänger mit sehr gut gebauten, durchkalkulierten, erfolgsorientierten Filmen zu tun, die das Publikum bedienen wollen, egal ob mit No-, Low- oder High-Budget. Selbst die Independent Szene lebt von der Unterhaltsamkeit der Geschichte, des Dramas, der künstlerischen Hochwertigkeit. Bei einem Festival sind die Kriterien eher soziale Brisanz, Mut zu neuen Wegen, Eigenart.
Diese Filme können den eigenen Horizont erweitern, gerade wenn man sich für einen liberalen, demokratischen Menschen hält. Wie zum Beispiel beim Film "Who Killed Cock Robin" von Travis Wilkerson. Ein sehr rohes, schwer zu schluckendes Werk über eine aussichtslose Situation eines jungen Mannes in der amerikanischen Provinz. Man sieht 85 Minuten etwas, was nicht den unterbewussten Entertainment-Normen entspricht, und das auch nicht unbedingt möchte. Was ist normal, was ist perfekt, was darf sein, was nicht?!? Halte ich das aus, bzw. muss ich das aushalten?
Und dann kann man auch sehr überraschend beglückt werden, wie man es sich nie hätte träumen lassen. "Sutter Kodid Winyan" (The Shutter) von Banjong Pisanthanakun & Parkpoom Wongpoom war so ein wahnwitziges Geschenk.
Risiko ist das halbe Leben. Und was riskiert man schon, wenn man im trockenen Kino sitzt!
Also, nur Mut für die nächste Runde: "Viennale 06". (Stephanie Lang)