Angenommen, Sie sehen auf der einen Straßenseite einen verkrüppelten Roma-Bettler [1] und auf der anderen Didi 'Verleiht Flügel' Mateschitz. Ganz ehrlich - wem würden Sie lieber Gesellschaft leisten? Sie müssen sich nicht dafür genieren. Jeder ist lieber bei den Gewinnern. Aber wem stehen Sie rein objektiv näher, dem Multimilliardär oder dem Habenichts? Ein Gastkommentar von Leo Lukas und Simon Pichler, deren besonders sehenswerte Programm "Nackte Zahlen" derzeit in Wien zu sehen ist.
Vermutlich zählen Sie sich gefühlsmäßig zur Mittelschicht. Bloß, wie wird die definiert? Wo verläuft der Mittelstrich? Laut Statistik Austria lag der Median des jährlichen Nettoäquivalenzeinkommens für Österreich im Jahr 2008 bei 19.011 Euro. Michi Mittelmensch verdiente also monatlich 1.584,25 € netto; exakt die Hälfte der Österreicher bekam mehr als diesen Betrag, die andere Hälfte weniger. Hm. Wirklich weiter hilft uns das nicht. BZÖ-Obmann Josef Bucher sieht klarer. Für ihn umfasst der Mittelstand "alle, die in Österreich entweder Lohn- oder Einkommenssteuer bezahlen. Egal für welche Höhe des Einkommens. Diejenigen, die auf Leistung setzen und mehr verdienen wollen." (Standard vom 6./7. August 2010) Bestechend simpel, um nicht zu sagen blendend. Buchers Mittelstand klingt aufs Erste nach einer breiten Basis. Nicht dazu gehören nur Personen ohne eigenes, steuerpflichtiges Einkommen - also die Armen, Kinder und Hausfrauen, jene 'Obezahrer' [2], die partout nicht "auf Leistung setzen und mehr verdienen wollen." Zum Sprachrohr aller anderen schwingt sich die 2010 gegründete "Mittelstands-Vereinigung Österreich" auf, deren Präsident, der ehemalige ORF-Journalist Walter Sonnleitner, bei der Wiener Gemeinderatswahl 2010 als Spitzenkandidat des BZÖ fungierte. Vizepräsident ist Robert Glock, Finanzreferent Matthäus Thun-Hohenstein; Arbeitsgruppen leiten unter anderem Veit Schalle und Prinz Alfred von Liechtenstein. Ähem. Mittelstand? Glock ist primär Sohn (des gleichnamigen Ferlacher Waffenfabrikanten) und Besitzer mehrerer Grundstücke am Wörthersee. Thun-Hohenstein, Bankmanager, engagiert sich außerdem für die reaktionär-fundamentalkatholische "Monarchieliga". Schalle war von 1979 bis zu seiner Pensionierung 2005 Vorstandsvorsitzender von Billa und Merkur. Man darf getrost annehmen, dass alle diese Herren [3] ihre Scherflein im Trockenen haben (auch die Familie des Prinzen von Liechtenstein gilt nicht als sonderlich armutsgefährdet). Für die breite Masse sind sie etwa so repräsentativ wie ein Elefant, der behauptet, sämtliche Schmetterlinge zu vertreten - weil diese schließlich ebenfalls einen Rüssel besitzen. Netter Versuch, aber ... Einen gänzlich anderen Ansatz schlägt der deutsche Jurist Harald Wozniewski vor, einer der rührigsten Internet-Querulanten [4]. Median-Berechnungen hält er für Augenauswischerei - weil die Einkommen der Superreichen von den Statistikämtern überhaupt nicht ermittelt, ergo nicht mitgerechnet werden, und über die Höhe der Vermögen keiner richtig Bescheid weiß, auch nicht das Statistische Bundesamt. Für 'Dr. Wo' definiert sich Mittelschicht durch mittlere Kaufkraft. Um diese zu berechnen, dividiert er die gesamte in Deutschland vorhandene Geldmenge, im Jänner 2008 rund 960 Milliarden Euro [5], durch die Anzahl der deutschen Haushalte, knapp vierzig Millionen. Ergebnis: 24.086 €. So. Und jetzt zählen Sie bitte einmal zusammen, was Sie im Börsel haben, genauer: was an Bargeld und jederzeit verfügbarem Guthaben auf Giro- oder Tagesgeldkonten in Ihrem Haushalt im Schnitt vorhanden ist. Über 24.000 Euro? [6] Gratulation! Sie gehören zu den 5 % der Bevölkerung, die mit dem rasanten Wachstum der Geldmenge Schritt halten können. Die übrigen 95 % haben seit den 1970er Jahren permanent an absoluter, geldmengenbereinigter Kaufkraft verloren; ihre Bruttoeinkommen sind z.B. zwischen 1974 und 1998 um fast 70 % gefallen. Mit anderen Worten: Es gibt in Deutschland - und die Verhältnisse in Österreich sind sehr ähnlich - keine Mittelschicht (mehr). Außer, Sie bezeichnen als solche die obersten 5 %. Aber gehören Sie dann immer noch dazu?
Es gibt noch einen anderen Grenzwert, eine Art "gläserne Decke", die (wenige) Gewinner und (viele) Verlierer unseres Wirtschafts- bzw. Geldsystems voneinander trennt; keineswegs unsichtbar, auch nicht kompliziert zu berechnen, jedoch den wenigsten bewusst. Wir alle zahlen nämlich permanent Zinsen, also Kreditraten zurück, selbst wenn wir vordergründig gar keinen Kredit aufgenommen haben. Mit jeder Wurstsemmel, die Sie sich kaufen, berappen Sie die Schulden anderer Leute - denn jede an der Produktion sämtlicher Bestandeile von Wurst und Semmel beteiligte Firma muss, will sie überleben, ihre eigenen Kreditzinsen in die Preisgestaltung einkalkulieren. Der Anteil variiert nach Ware oder Dienstleistung, je nachdem, ob mehr oder weniger Lohn- oder Kapitalkosten enthalten sind. Aber im Schnitt können wir, sehr niedrig geschätzt, von einem Drittel des Preises ausgehen [7]. Besonders hoch belastet sind Raffinerie- und andere hochtechnologische Produkte sowie die Mieten - nicht umsonst spricht man von "Zinshäusern".
Soll heißen: Wenn eine Familie jährlich an Lebenshaltungskosten 18.000 € aufwendet, also mit monatlich 1.500 € keineswegs in Saus und Braus lebt, stecken darin übers Jahr 6.000 € Zinsendienst. Wegen der hohen Staatsverschuldung kommen an Zinsen in Steuern und Abgaben, die besagte Familie für ein Nettoeinkommen von 18.000 € entrichtet hat, weitere 3.000 € dazu. In Summe zahlt dieser Haushalt 9.000 € für die Schulden anderer Leute. Umgekehrt könnte unsere Familie natürlich - trotz oder wegen des niedrigen Lebensstandards - Geld veranlagt haben, das seinerseits Zinsen erbringt [8]. Na, wieviel muss das sein, damit sich Verlust und Ertrag die Waage halten? Rechnen Sie mit: Derzeit sind die Bankzinsen für kleine Beträge nicht besonders hoch. Mit (inflations- und gebührenbereinigten) 3 % haben Sie schon gut verhandelt. Um 9.000 € ausgleichen zu können, müssten Sie auf dieser Basis - no? Genau: 300.000 € einigermaßen sicher angelegt haben. Dreihunderttausend Euro. Das ist der Grenzwert, die lichte Höhe der gläsernen Decke. Alle darunter zahlen ein bzw. drauf; alle darüber profitieren, ohne viele Finger zu rühren. Es wird Sie, wenn Sie bis hierher vorgedrungen sind, nicht weiter verwundern, dass das Verhältnis zwischen Verlierern und Gewinnern etwa 95:5 beträgt, und sich monatlich, wöchentlich, täglich, mit jeder Wurstsemmel zugunsten derjenigen, die Geld gegen Zinsen verleihen können, verschärft. Um Ernst Breit, den langjährigen Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbunds, zu paraphrasieren: "Während wir verschämt verarmen, werden andere unverschämt reich."
ANMERKUNGEN: [2] Faulpelze, Nichtstuer [3] Frauen kommen auf der Homepage keine vor. [5] "Geldmenge M1" (ohne Termin- und Spargelder sowie geldähnliche Forderungen) gemäß Monatsbericht der dt. Bundesbank. [6] Sorry, diese Zahl ist veraltet. Im Juni 2010 war der Betrag wegen des rapiden Geldmengenwachstums bereits auf rund 32.000 € gestiegen. [7] Von verschiedenen Seiten wird derzeit bereits 40 % und mehr Zinsendienst veranschlagt. Aber wir halten uns an Helmut Creutz, der schon 1992, nach sorgfältiger Rechnung, auf etwa ein Drittel gekommen ist; obwohl sich die Verhältnisse seither nicht unbedingt entspannt haben. [8] Oder Produkte/Dienstleistungen verkaufen, in deren Preis wiederum Kreditraten eingeflossen sind.
Leo Lukas & Simon Pichler Live-Termine: |
||||