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rawi-hage-als-ob-es-kein-moDer Roman "Als ob es kein Morgen gäbe" handelt vom zersetzenden, grauenhaften Spiel des Tötens in Libanon. Eine poetische Auseinandersetzung von Rawi Hage, kongenial in die deutsche Sprache gehievt von Gregor Hens. Leseeindrücke von Tristan Jorde.

Der Libanon gilt für uns seit Jahrzehnten als Inbegriff von Bürgerkrieg und Verwüstung. Aber natürlich beschreiben Schlagzeilen und Gräuelbilder nicht im Entferntesten die Macht des zersetzenden Gifts, das der Krieg in alle Ecken und Winkel des menschlichen Seins spritzt. Der jetzt in Kanada lebende libanesische Autor Rawi Hage hat ein Meisterwerk geschaffen, das in unglaublich poetischer, blumiger und bilderreicher Sprache Kindheit und Jugend zweier Freunde inmitten von wechselnden Frontlinien und krepierenden Granaten in Worte fasst. Und hier gleich zu Beginn sei auch gleich ein großes Lob an den Übersetzer, Gregor Hens, ausgesprochen, der es in einfühlsamer Weise verstanden hat, die farbenreiche Wucht von Hages Gedanken ins Deutsche hinüber zu retten und ihr die entsprechende Vielfalt zu geben. Allein sprachlich ist dieses Buch eine echte Bereicherung.

Die Vernunft ist nicht mehr als eine nützliche Fiktion

Die zwei jungen Freunde, Bassam und George, letzterer auch genannt De Niro, wollen auch nur Kinder, Jugendliche sein, mit allen ihren Interessen und Bedürfnissen, mit ihren Wünschen und Träumen, die auch bei uns junge Menschen ganz selbstverständlich haben dürfen. Sie fordern Respekt für sich und ihre Freundschaft, werden Opfer bestialischer Torturen und geraten in ihrer verzweifelten Suche nach Anerkennung und Zugehörigkeit sogar in die Menschen-Schlachthäuser von Sabra und Schatila. Und schon bald erkennen Sie inmitten des Strudels aus Vernichtung und Bestialität: "Die Vernunft ist nicht mehr als eine nützliche Fiktion".

Wo sogar die Tauben glücklich und gut genährt wirken

So bleibt einem von Ihnen, Bassam, nur der Traum der Flucht, denn als sein engster Freund, sein "Blutsbruder" sich auch in die Reihen der Milizionäre einreiht, sieht er für sich keinen Platz mehr in seiner Heimat. Er träumt von der Flucht nach Rom "wo sogar die Tauben glücklich und gut genährt wirken", landet aber zunächst auf abenteuerlichen Wegen in Frankreich. Und erst da wird ein symbolischer Akt möglich, zu dem er vorher weder Mut noch Gelegenheit hatte: als der Platz für seine Pistole im Rucksack frei wird, passt zufällig und absichtlich ein Buch genau in die Lücke hinein. Es bleibt für beide "Helden": eine verlorene Kindheit, eine innige Freundschaft, die im Kugelhagel zerbirst und eine ungewisse Reise in "ruhigere" Länder, wo die Menschen nichts von Bassam wissen wollen und ihm schon gar nicht Obdach geben möchten. Das alles in sprachmächtigen Bildern, in einer Größe, die vielleicht einstmals auch Karl Kraus für einen früheren Krieg fand. In packender Emotion, die mitleiden und mitbangen lässt und in durch den Autor selbst miterlebter Tiefe und Bedeutung. Ein Pflichtbuch, wie gesagt werden könnte, wäre es nicht trotz aller Grauen auch von äußerst beeindruckender Schönheit. (Tristan Jorde)

Buch-Tipp:

Rawi Hage - Als ob es kein Morgen gäbe
Bewertung: @@@@@
Aus dem Englischen übersetzt von Gregor Hens
Verlag: Dumont Literatur und Kunst Verlag (2009)