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hollinghurstEin komplexes und intelligentes Buch legt der große Erzähler Alan Hollinghurst mit "Des Fremden Kind" vor, bei dem jeder Teil der Geschichte ein neues Universum aufmacht und diese auf sehr kluge Art und Weise in die Gegenwart trägt, in die Geschichts- und Literaturforschung der heutigen Zeit.

1913 besucht ein junger aufstrebender adeliger Dichter, Cecil Valance, seinen bürgerlichen Kommilitionen aus Cambridge, George Sawle, auf dessen bescheidenem Wohnsitz Two Acres. Er hinterlässt ein Liebesgedicht, bei dem er später noch kriegsfreundliche Passagen hinzufügt. Sowohl sein Freund George, als auch dessen 16-jährige Schwester teilen Liebes-Erlebnisse mit Cecil, sodass sich beide durch das Gedicht von ihm gemeint glauben. Jahrzehnte nach Cecils frühem Tod mit Mitte 20 - er fällt im Ersten Weltkrieg - treten pikante Details seines Lebens und seiner bisexuellen Vorlieben zutage. Jahrzehntelang wurden diese von den überlebenden Freunden, Bekannten, Verwandten oder auch Dienstboten, trotz eifriger Recherchen verschiedenster Literaten, zurückgehalten.

In fünf Teilen, mit Zeitsprüngen von jeweils 10 bis 40 Jahren, erzählt Hollinghurst, insgesamt die Spanne eines ganzen Jahrhunderts umfassend, über einen Dichter, sein Gedicht und dessen wechselnde Bedeutung im Laufe der Zeit. Das Gedicht thematisiert Krieg, in einer kriegsfreundlich gestimmten Welt. Es wird politisch instrumentalisiert (Winston Churchill zitiert es) und avanciert zur allgemeinen Schullektüre für nachfolgende Generationen. Das Zeitgeschehen begründet den Aufstieg des Dichters, den der Krieg aber bald auf dem Gewissen hat. Das Buch erzählt über die Narben des Krieges, über die Geschichte der Homosexualität in England, über Literatur und Literaturbetrieb.

Der erste Teil legt den Grundstein, auf dem die weiteren Teile aufbauen: Cecil besucht 1913 seinen Kommilitonen George auf dem Anwesen seiner Familie und erregt großes - nicht nur literarisch ausgerichtetes - Interesse, auch bei dessen Schwester Daphne. Er hinterlässt ein Liebesgedicht im Poesiealbum der Schwester.

Teil 2 steigt 1926, nach dem Ersten Weltkrieg, wieder ein: Daphne ist inzwischen Lady Valance und hat zwei Kinder und ist nun Herrin über 3000 Morgen Land und das im viktorianischen Stil erbaute Anwesen Corley Court, auf dem Cecil aufgewachsen ist. Das Haus befindet sich gerade an der Schwelle zu einer radikalen Veränderung. Es wird modernisiert. Die im ersten Teil bewunderten Prunkstücke des viktorianischen Zeitalters werden verschalt. Daphne, ist nicht, wie man vermutet, mit Cecil verheiratet, sondern mit dessen Bruder Dudley. Der zweite Teil umspannt eine Gedenkveranstaltung zu Ehren Cecils, der 25-jährig im Krieg gefallen ist. Ein Literat ist beauftragt, Verwandte und Freunde anlässlich eines Portraits über ihn zu befragen, aber die wichtigsten Details werden vor ihm verborgen: Briefe von Cecil an George, die das Geheimnis der Liebschaft aufdecken würden. Die Zeit, über Homosexualität offen zu sprechen, ist noch nicht reif.

Teil 3 setzt 41 Jahre später wieder ein, nach dem Zweiten Weltkrieg, im Jahr 1967. Daphne feiert ihren 70. Geburtstag und ihre Kinder sind erwachsen. Ein junger Mann, Paul Bryant, geboren gegen Ende des Zweiten Weltkriegs, Bankangestellter und Verehrer des Dichters Cecil, lernt Daphne und ihre Familie kennen. Er beginnt eine Affäre mit einem jungen Lehrer, Peter Rowe, der auf dem ehemaligen Anwesen der Familie Valance, Corley Court, unterrichtet, das nunmehr zu einer Schule umfunktioniert wurde. Die Schüler studieren Cecils Gedichte. Das Thema Homosexualität wird jetzt schon offener behandelt, auch ein Gesetzesentwurf der die Situation Homosexueller erleichtern wird, steht bevor. Peter glaubt Cecil sei schwul gewesen und er fragt sich, ob "die Ära der Gerüchte bald von einem Zeitalter der Dokumentation abgelöst" werden würde.

Teil 4 setzt wieder zehn Jahre später ein: Der frühere Bankangestellte Paul schreibt an einer Biographie über Cecil. Er trifft die nunmehr 80-jährige Daphne, um sie zu interviewen, erfährt aber wenig Neues. Auch nicht von den anderen noch Lebenden: Cecils Bruder Dudley empfängt ihn erst gar nicht und der ehemalige Diener Jonah hält wichtige Informationen vor ihm zurück. Nur von dem altersbedingt dementen George bekommt Paul brisante Informationen: Von Cecils regem Liebesleben mit Frauen und Männern, einem Kind aus der Verbindung mit Daphne und vieles mehr.

Teil 5 schwenkt, 31 Jahre später, zur Perspektive von Rob, einem Buchhändler und Antiquar. Auf der Beerdigung des ehemaligen Lehrers auf Corley Court, Peter Rowe, lernt er im Jahr 2008 einige Akteure der vorigen Handlungen kennen: Die Enkelin von Daphne oder Paul Bryant, der mit seiner Enthüllungsbiographie über Cecil für viel Wirbel gesorgt hatte. Durch Zufall gerät Rob durch seine Arbeit an ein altes Tagebuch, in dem noch unveröffentlichte Briefe und Gedichte von Cecil erwähnt sind, die er kurz vor seinem Tod geschrieben hat und die brisante Inhalte zu haben scheinen. Da die Verlassenschaft aus dem Haus gerade gesäubert wird, macht er sich schnell auf den Weg, um das kostbare Gut vielleicht noch zu retten.

Der Autor lässt in seinem Roman die Erinnerungen und die Vergangenheit über die Gegenwart dominieren, obwohl neben dem Hauptstrang der Erzählung gesellschaftliche und politische Entwicklungen Englands zwischen 1913 bis 2008 gespiegelt sind. Die Figur des Dichters Cecil, die dominant im Zentrum steht, kommt selbst nicht zu Wort, außer in Form von in Bruchstücken zitierten Gedichten. Alan Hollinghurst, Man-Booker-Preisträger von 2004, erzählt aus den höchst unterschiedlichen Wahrnehmungen der Anderen, seien sie nun bürgerlicher oder adeliger Herkunft. Auch später Geborene aus den nächsten Generationen kommen zu Wort, die mit Schulwissen über Cecil Valance ausgestattet wurden. Hollinghurst verwendet dabei zusätzlich die Perspektive eines Biographen, der sich aus Berichten, Fundstücken und Interviews ein Bild macht. Es gibt keinen Erzähler, der vollständigen Einblick in das Innenleben von Cecil Valance bietet, der Leser muss die Teile selbst zu einem Ganzen zusammensetzen. Das Puzzle wird langsam, Stück für Stück vervollständigt, wobei manche Stellen leer bleiben - weil dazu nötige Quellen verloren gehen oder aufgrund von gesellschaftlichen Moralvorstellungen unter Verschluss gehalten oder vernichtet werden.

"Des Fremden Kind" ist ein komplexes und intelligentes Buch von einem großen Erzähler, bei dem jeder Teil ein neues Universum aufmacht und auf sehr kluge Art und Weise die Geschichte immer weiter in die Gegenwart trägt, in die Geschichts- und Literaturforschung der heutigen Zeit. Lesenswert! (Veronika Krenn)

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Buch-Tipp:
Alan Hollinghurst: Des Fremden Kind
Bewertung: @@@@@
Roman, 688 Seiten
Aus dem Englischen von Thomas Stegers
Verlag: Blessing Verlag, München (2012)

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