Was kommt nach einem Album, auf dessen Cover ein Sticker mit der Aufschrift "The Final Recordings" prangte? Richtig. Die allerletzten Aufnahmen. "American VI: Ain't No Grave" von Johnny Cash ist das zweite postume Album aus dieser Reihe und angeblich wird kein weiteres mehr folgen. Das Cover ziert den Sänger im Kindesalter, im Booklet sieht man seine knorrige Hand. Ganz und gar nicht knorrig hingegen, was man zu hören bekommt. Der letzte Baustein von Cash ist zugleich ein weiteres Meisterwerk.
Lili'uokalani, die letzte Königin von Hawaii, hat das letzte Wort auf dem angeblich allerletzten Album von Johnny Cash. Sie war ja nämlich nicht nur Königin, sondern auch Komponistin von weit über 100 Liedern, darunter das weltbekannte Aloha Oe. Paul Abraham rekapitulierte ihr Leben übrigens in der Operette Die Blume von Hawaii. Wie so oft bei Monarchen wurde sie, nachdem die erste Republik von Hawaii ausgerufen wurde, wegen Hochverrat festgenommen. Die eigenständige Republik hielt, wie man weiß, nicht sehr lange, und hatte gerade mal einen Präsidenten, bevor Hawaii Teil von USA wurde. Bezeichnenderweise war dies Bananen-Baron Sanford Dole, der quasi Namenslieferant für die Bananen-Republiken dieser Welt. Aber das hat nun wirklich nichts mehr mit Johnny Cashs Album Ain't No Grave zu tun, dem sechsten Teil der American Recordings Reihe mit Produzent Rick Rubin. Daher zurück zum Ausgangsthema, der Kreis wird sich schon noch schließen.
Es gibt kein Grab, das meinen Körper festhalten kann Diese Aufnahmen hielten ihn am Leben, heißt es in einer Überlieferung von Rick Rubin, und das hört man. Bei diesen zehn Liedern kann man vor Ehrfurcht eigentlich nur niederknien, denn wer beim Hören des hier gebotenen keine Gefühle zeigt sollte schleunigst sein Innenleben durchforsten lassen. "There ain't no grave / Can hold my body down! / When I hear the trumpet sound / I'm gonna rise right out of the ground / Ain't no grave / Can hold my body down . . .", singt der Man in Black im Eröffnungslied, dem Titelsong, mit seiner alten, dunklen Stimme. Dahinter wütet die Band, rund um den Tom Petty and the Heartbreakers Musikern Mike Campbell (Guitar) und Benmont Tench (Piano, Harpsichord, Organ). Scott Avett spielt hier, sehr düster angelegt, das Banjo, Seth Avett stampft mit dem Fuß, dazu eine auf Endzeit gestimmte Gitarre, mehr braucht es eigentlich auch nicht, um diese unheimliche Stimmung heraufzubeschwören.Vision vom Zug zum Himmelstor Von Sheryl Crow stammt das zweite Lied auf dem Album. In "Redemption Day" fährt der Zug geradewegs zum Himmelstor, am Weg entlang schauen und warten Frau, Mann, Kind auf die Erlösung (Redemption). Auch hier macht sich eine beklemmende Stimmung breit führt der Weg doch an Straßenkämpfen vorbei, wie man sie oft im TV sieht, und: "It's buried in the countryside / It's exploding in the shells at night / It's everywhere a baby cries /Freedom." Am Ende, so die Annahme, erwartet einen also nicht Elend, Hunger, Leid und sonstiger irdischer Wahnsinn, sondern einzig und allein Freedom. Ein schöner Gedanke, der im Verlauf des Albums noch weiter ausgeführt wird. Ein großartiges Lied, vor allem in der Interpretation von Johnny Cash.Gute Zeiten Was kommt also, nachdem der Zug das Himmelstor erreicht? Richtig, die guten Zeiten. Kris Kristofferson schrieb darüber ein Lied, in dem es heißt: "Don't look so sad, I know it's over / But life goes on, and this old world will keep on turning / Let's just be glad we had some time to spend together / There's no need to watch the bridges that we're burning." Aufgenommen wurden diese letzten Lieder zwischen dem Tod von June Carter Cash und seinem Fortgang vom Diesseits, und so tröstlich seine Version von "Good Times" auch daherkommt, so sehr wird einem zum Weinen zumute, an einer Stelle heißt es schließlich auch "There'll be time enough for sadness when you leave me." Musik, wie sie nicht intensiver und Herzzerreissender dargebracht werden kann. Musik, die berührt ohne rührselig zu sein. Allgemein formuliert sind das eben die großen Unterschiede wenn Johnny Cash ein Lied von Kris Kristofferson singt im Vergleich zu z.B. STS.Wo ist, o Tod, dein Sieg? Wo ist, o Tod, dein Stachel? Auf Grundlage des oben angeführten Bibelzitats vertonte John R. Cash mit dem Lied "I Corinthians 15:55" den Korintherbrief, dessen grundlegende Themen das Verständnis von Ehe und Ehelosigkeit, aber auch Konflikte innerhalb einer Gemeinde, sowie das Leben nach dem Tod behandeln. "O Life", singt Cash, "you are a shining path / and hope springs eternal just over the rise / When I see my Redeemer beckoning me." Es ist ein Triumph über den Tod, der Tod ist ein besiegter Feind, nur ein Diener, ein "Pförtner", der uns die Tür zum Verlassen dieser Erde und alles dessen, was sterblich ist, auftut, und von daher völlig entwaffnet. Der Tod besitzt gegen uns keine Waffe mehr. "O Death, where is thy sting / O Grave, where is thy victory", lautet die von Cash gesungene Herausforderung, um an anderer Stelle mitzuteilen: "Let me sail into your harbor of lights / There and forever to cast out of my nights / Give me my task and let me do it right / And do it with all my might." Eindeutig das Herzstück des Albums. Die instrumentale Begleitung ist nahe an der Grenze zum Spartanischen, das zusätzliche Tiefe verleiht. A dusty road and a satisfied mind Von Tom Paxton, einem weiteren ehrwürdigen Folksänger bzw. Singer-Songwriter [seine bekanntesten Lieder heißen "Ramblin' Boy", "What Did You Learn in School Today?" und "Peace Will Come"; Anm.], stammt der Song "Can't help but wonder where I'm bound", das mit einer leichten, beinahe schon harmlosen Melodie und mit klassischen Codices verzierten Textzeilen wie "It's a long and a dusty road, it's a hot and a heavy load / And the folks I meet ain't always kind / Some are bad, some are good, some have done the best they could / Some have tried to ease my troubled mind" daherkommt. Das Lied "Satisfied Mind" wiederum führte bereits im Jahr 1955 in der Version von Porter Wagoner die Country-Charts an und wurde seither von unzähligen Größen neu interpretiert, so z.B. von The Byrds (1965), Tim Hardin (1971), John Martyn (1975), Lucinda Williams (1978), Bob Dylan (1980), Lindsey Buckingham (1981), Jonathan Richman (1990) und Jeff Buckley (1998). Diese Version von Johnny Cash [eine weitere findet sich auf dem Soundtrack von "Kill Bill Vol. 2"; Anm.] geht unter die Haut - klar, was sonst? Bis aufs Gerüst reduziert, also nur auf akustischer Gitarre begleitet singt Cash "When my life has ended / And my time has run out / My friends and my loved ones / I'll leave there's no doubt / But one thing's for certain / When it comes my time / I'll leave this old world / With a satisfied mind." Der Sänger als Trostspender.All my teardrops are dry Von Dinah Washington bis Martina McBride, von Hank Snow bis Johnny Cash, finden sich Aufnahmen von "I don't hurt anymore". Die Tränen sind getrocknet und niemand geht mehr den Gang entlang, längst ist die Zeit gekommen, dass sich die letzte Tür geöffnet hat, "and it's wonderful now / I don't hurt anymore", hören wir den Sänger diese Zeilen intonieren. Erinnerungen werden geweckt, alles ist gut, so wie es ist. Eine Zeitreise ist auch "Cool Water", ein Original von Bob Nolan aus dem Jahr 1936, das ebenfalls durch die sparsame Instrumentierung (Gesang, akustische Gitarre) gewinnt, letzten Endes aber nur als Einleitung zum Grande Finale dient.Aloha Oe: Der Traum vom Frieden Exzellent ist das Album auch deshalb, weil die Liedfolge hervorragend gewählt ist und jedes Lied perfekt ineinander greift, drei Blöcke bildet, quasi ein 4-4-2-System. Das vorletzte Lied vom Album, "Last night I had the strangest dream" ist ein Original von dem im Jahr 2000 verstorbenen Folksänger Ed McCurdy. 1950 in einer, wie die Legende besagt, schlaflosen Nacht geschrieben, wurde es zunächst von Pete Seeger und The Weavers gesungen und bis dato in 76 Sprachen übersetzt, so natürlich auch in die deutsche Sprache. Hannes Wader betitelte das Lied als "Traum vom Frieden" und "sah im Traum die ganze Menschheit einig und befreit von Folter, Hass und Völkermord für jetzt und alle Zeit." McCurdy schrieb den Text als Antwort auf die Ostermarschbewegung in England und wurde im übrigen, so kann man es in einem McCurdy-Nachruf lesen, sogar von ostdeutschen Schulkindern gesungen, nachdem die Berliner Mauer fiel. Und Wader sang: "...Menschen aller Rassen standen lachend Hand in Hand / Wohl jeder träumt den Traum vom Frieden / und es kommt die Zeit / dann wird wie jeder Menschheitstraum der Frieden Wirklichkeit..." Im Vergleich dazu die Textzeilen im Original: "The people in the streets below / Were dancing round and round / And swords and guns and uniforms / Lay scattered on the ground." Und plötzlich war Frieden. Für jetzt und immer. Und genau so hört sich die Version von Johnny Cash an. Nach Versöhnung und zudem eine Menschheit besingend, die Krieg und andere Grausamkeiten zu überwinden weiß. Wollen wir es glauben? Wir wollen. Somit schließt sich der Kreis. Der zweite Abschiedssong von Johnny Cash ist das eingangs erwähnte Spiritual von der letzten Königin von Hawaii, Lili'uokalani. "Aloha, until we meet again" heißt es darin. Hoffentlich sieht man sich tatsächlich wieder, irgendwo, irgendwann, bis dahin: Rest in peace & walk the line. Man braucht nicht viele Alben für die Insel. "American VI: Ain't No Grave" sollte in jedem Fall dabei sein. (Manfred Horak)
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