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solveig-slettahjell01Solveig Slettahjell - würde man auf Wiens Straßen bitten, dieses Buchstabenkonglomerat vorzulesen, es gäbe unzählige Varianten. Slow Motion Orchestra, so der Name der Band, die die gebürtige Osloerin seit nunmehr neun Jahren begleitet, bietet da schon deutlich weniger Interpretationsspielraum. Nicht nur die Aussprache betreffend, auch die Aussage: Ohne Ironie ein aufrichtiges Etikett.

 

Zu dieser Band gehören Per Oddvar Johansen (Schlagzeug), Jo Berger Myhre (Bass), Even Helte Hermansen (Gitarre) und Sjur Miljeteig (Trompete, produzierte auch das aktuelle Album "Tarpan Seasons"). Der Unzuordenbarkeit dieser Namen für Nicht-Skandinavier wegen sei hinzugefügt: Alles Nordmänner. Die Musik, die das Publikum beim Konzert am 24. März 2010 im Porgy & Bess (Wien) erfuhr, lässt sich nicht aufspalten in Fragmente. Obschon es Einzelstücke gab und jedes einen Anfang und ein Ende hatte, war es vielmehr, als würde ein großer Klang bereitet. Wer jetzt ein Genre will, wird leer ausgehen. Diese Musik, und selbst bei diesem Wort fürchte ich zu sehr in Schubladen zu denken, ist schwer zu analysieren, eher analysiert sie den Zuhörer, löst ihn auf im ursprünglichen Sinne des Wortes.

Reichlich reduziert

solveig-slettahjell02Reduce to the max: Dieser Slogan scheint das Credo der Band zu sein. Der Trompeter spielte absolut untypisch. Leise, über keine zwei Oktaven und so reich an Subtones, dass man bei geschlossenen Augen eher geglaubt hätte, ein Flügelhorn zu hören oder teilweise sogar eine Panflöte. Beinahe unbemerkt trat er begleitend auf und wenn doch solistisch, so stets dezent und eingebettet ins Stück, gänzlich ohne Einzelkämpferattitüde. Genauso der im Sitzen spielende Gitarrist: Auch er übte sich nordisch nobel in Zurückhaltung.  Bassist und Schlagzeuger kamen im norwegischen Nokturnen-Nebel gar nicht erst in solistische "Sichtweite". Auch die Frau der Band, die beim 2010er-Karfreitag 39 Jahre alt wird, sang sich selbst nicht in den Vordergrund. Mit ihrer Stimme, die auf einer Rauhstufenskala von 0 (glockenklar) bis 10 (Bonnie Tyler) eine 2 einnimmt, und mit ihrem handwerklichen Können könnte sie mit Versatilität und Artistik beeindrucken - aber sie ließ es. Beim fünften Stück erst setzte sie sich an den Flügel, zog aber auch da keine One-Girl-Show ab, sondern fügte sich ins Kollektiv. Eben dieses Kollektiv, dass sich nicht nur der Instrumente und Stimmen aller Musiker bediente, sondern auch eingespielter Geräusche, schuf eine Stimmungssuite mit Anleihen bei Country und Blues, die teils ganz losgelöst von Rhythmus nur sphärisch schwelte, asiatisch klang, teils an Schauerfilme mit vertonten Geisterstimmen erinnerte, wenn die Gitarre wie eine Säge "sang" und wunderbar Verse wie "What's waiting on the other side?" oder "And if you fall / please let me / carry you" stützte.

Authentizität

solveig-slettahjell04Man nimmt der Norwegerin ab, dass diese Musik ihre ist. In ihrer Heimat ist sie ein Star ohne sich angepasst zu haben, außerhalb davon braucht sie es wohl gar nicht zu werden: Die norwegische Musikexportquote sollen lieber Marit Larsen und Maria Mena pushen. Als erste Zugabe gab es ein Stück, nur von Solveig Slettahjell alleine gespielt, von dem sie selbst sagt "It's in my repertoire since I heard it the first time": Tom Waits "Take it with me" [erstmals veröffentlicht auf "Mule Variations", 1999; Anm.], wohl ihr meistabgerufenes Stück auf der Videoplattform YouTube. Auf die Qualität  der Texte will ich nicht näher eingehen, die Rezension zum aktuellen Album Tarpan Seasons sei da ans Herz gelegt. Doch man kann es ahnen: Sparsam aber tiefgehend.

Hermeneutische Hydra

Fast möchte man meinen, ein Abend mit dem Slow Motion Orchestra sei fiktiv, von einem Symbolisten konstruiert und biete mehr Deutungsmöglichkeiten als eine Thomas Mann-Erzählung: Da ist auf der einen Seite die Schwere der Musik und auf der anderen das freudvolle Wesen der Musiker, die sich anlächelten und ihre Instrumente nur streichelten. Allesamt in Schwarz gekleidet, "Into the Night" singend, dann aber eine Frontfrau mit dem wundervoll mystischen Namen "Weg zur Sonne" und zum Schluss noch ein beinahe sublimes, vielleicht auch latent rausgerutschtes Zitat aus Debussys "Claire de lune". Alles klar und doch diffus. Keine Pause, keine Sets, ein einziges Stück Stimmung. Schwermütig, aber vielleicht erst vor dem Hintergrund von Fjord, Fjell und Polarnacht als Glück zu verstehen. Solche Musik ist möglicherweise das Abbild einer Volksseele ohne Folklore und damit auch Kind dieses Landes - wie schon Griegs "Peer Gynt", aus dem ja wiederum die berühmte Melodie "Solveigs Lied" stammt.

Musik, in der man hätte verschwinden wollen

Das soll jetzt nicht heißen, man finde zu solcher Musik nur einen intellektuellen Zugang. Es geht ganz gut über den Bauch, wie man im Porgy & Bess beobachten konnte: Die Besucher waren tief in ihre Sessel gerutscht, hatten die Augen geschlossen, den Kopf auf der Brust oder im Nacken, als wären sie große Kinder, die seit ewigen Zeiten wieder eine Gute-Nacht-Geschichte hörten und entsprechend stark reagierten. Es war eben Musik von einer Heimeligkeit, in der man hätte verschwinden wollen. Hier sei auch das Album aus dem Jahre 2007 erwähnt. Es solveig-slettahjell03heißt, da in der Künstlerin Wohnzimmer aufgenommen, schlicht "Domestic Songs", und schafft es, genau diese Intimität mit hinüber zum Hörer zu transportieren. Dass das beim Live hören gelingt, liegt aber auch an der Person. Solveig Slettahjell umgibt eine besondere Aura. Mit ihren dicken schwarzen Haaren, der typisch nordisch kleinen Nase und ihrer weißen Haut sieht sie aus wie eine alterslose Grönländerin und hat eine urmütterliche Strahlkraft, in sich ruhend wie ein Fjord, warmherzig, aber doch transzendental unbegreifbar. Ich würde mir wünschen, jeden Abend von ihr in den Schlaf gesungen zu werden. Da jedes Konzert einmal endet, musste sich das Publikum, aufgelöst in metaphysische Partikel irgendwann sammeln um wieder Fleisch zu werden. Und so eine Reinkarnation kann, wie ich erleben musste, schmerzlich sein. (Text: Peter Baumgarten; Fotos: Oskar Henn)

Bewertung: @@@@@@