Eigentlich glaubte man, dem Jamie Cullum-Publikum könne ein Konzert im Stehen zugetraut werden. Aber dafür ist es mittlerweile wohl zu breit, sprich, im Altersaufbau heterogen. Diesem Umstand wurde am 30. Mai 2010 im restlos ausverkauften, bestuhlten, Austria Center Tribut gezollt.
Ach, es ist müßig zu sagen, dass Jamie Cullum nicht in eine Genreschublade zu stecken ist. Das liest man spätestens seit seinem letzten Album "The Pursuit" in jeder Rezension, wenn man es nicht schon selbst gemerkt hat beim Hören seiner Musik. Dennoch bemerkt man diesen Umstand aber live noch einmal mehr, wenn die Soli einfach ausschweifender sind und größerer Freiraum für Experimente gegeben ist. So viel vorweg: Jamie kann alles. Auch unterhalten ohne Musik. Seine Ansagen waren herzerfrischend, selbstironisch, witzig und man merkte, der ist "down to earth" - auch nach Riesenerfolg jenseits des Atlantiks. Im Austria Center, zu dem er sich fragte, wo zwischen orangen Korridoren überhaupt noch ein Saal Platz finde war schnell eine Verbindung zum Publikum aufgebaut, trotz Gäste in Sitzposition. Das lag auch an einer geschickten Songauswahl. Nicht verstärkt Stücke aus dem neuen Album, sondern die bewährten Lieder aus den beiden vorangegangen Alben bildeten das Programm. Nicht wie bei manchen Künstlern so abgeändert gespielt, dass man sie kaum wiedererkennt und nicht mehr als schön empfindet, aber dennoch auch nicht wie auf der Platte. Das hieß viel zu tun für die Bandmitglieder. Zum einen als meisterliche Solisten, zum anderen als schwer arbeitende Begleiter: Der Trompeter war auch noch Gitarrist und hatte oft nur einen halben Takt Zeit zum Wechseln, nicht besser erging es dem Saxofonisten, der auch noch Keyboard spielte.
Öffentliche Entmystifizierung des Flügels
Interessant ist der Umgang Jamie Cullums mit seinem Instrument, dem Grand Piano. Er ist geprägt von Liebe und Respektlosigkeit. Schon vor dem Konzert wurden Videosequenzen aus dem Clip zu "Don't stop the music" gezeigt, Zeitlupengroßaufnahmen eines explodierenden Flügels: Eine Bildästhetik der Zerstörung, die an einen typischen James-Bond-Vorspann erinnert. Der Meister selbst benutzte das Tasteninstrument auch unorthodox: Er spielte nicht nur mit Fingern, auch mit dem Gesäß, hämmerte mit der ganzen Hand auf die Klaviatur, klopfte den Rhythmus auf dem Holz und griff in den Korpus um über die Saiten zu kratzen. Nicht zuletzt und nicht nur einmal kletterte er aufs glanzlackierte Holz, tanzte dort oben und benutzte den schwarzen Kasten als Sprungbrett. Diese Ehrfurchtslosigkeit sieht man natürlich nicht bei Schubertinterpreten, aber auch nicht bei Billy Joel und auch nicht bei Kollegen aus dem reinen Jazzbereich. Überhaupt nicht ehrenrührig wirkten die hinter der Bühne gespannten überdimensionalen Klaviersaiten. Und wenn er bei Balladen über die Tasten strich, so war dies zärtlich und innig. Dieser Gegensatz erinnerte mich an das vertraute Miteinander eines alten Paares: Liebe auf Augenhöhe ohne ständige Samthandschuhe. Und auch Erotik spielt vermutlich nicht ganz keine Rolle. Der destruierte Flügel als Ausdruck gesprengter Ketten ist sicher nicht weit hergeholt. Jamie Cullum zerstört einen Nimbus, holt das edle Musikmöbel sowohl aus dem staubigen Eck der seichten Begleitung als auch vom Sockel der klassischen Überhöhung, feiert Entweihung und Wiedergeburt zugleich.
Recyclingprofi schafft Meisterwerke
Der Engländer schreibt selbst tolle Stücke, ist aber im Verarbeiten von Hits so begabt, dass man sich ein reines Cover-Doppelalbum wünschen mag. Im Solo zitierte er eigene Melodien, in der Adaption von Klassikern bestach er mehr als die Originale. Besondere Höhepunkte waren deshalb: Sicher der Jazzstandard "I get a kick out of you" aus dem "Twentysomething"-Album (Cullum, mittlerweile 30 singt hier jetzt auch "I'm a thirty something"), jedoch ohne Band, nur mit Kontrabassbegleitung. Das klang komischerweise gar nicht reduziert, sondern absolut vollwertig nur neu. Sicher auch die Fusion der beiden des Niederschlags wegen sehr britischen Lieder "I'm singin' in the rain" und "Umbrella", letzteres der Welt eher bekannt durch die R'n'B-Chanteuse Rihanna. Hier ließ Cullum das Publikum die Begleitmelodie aus dem Gene Kelly-Klassiker singen, legte das neue Lied darüber, um so vereint auf Zeichen zu schließen. Hat geklappt und auch ihm sichtlich Freude gemacht.
Immer wieder toll waren abgeänderte, vielleicht zum Teil auch improvisierte Texte, die das Publikum mit einbanden.Auf der anderen Seite: Auch körpersprachlich ist das englische Multitalent begabt. Nicht nur war er ständig in Bewegung, schüttelte sich und flitzte über die Bühne, auch im Imitieren eines großen Kollegen zeigte er sich meisterlich. Seinen eigenen größten Hit "These are the days" leitete er als Ray Charles mit dessen typischen Oberkörperverrenkungen und Südstaatenakzent - dem Anlass gerecht - an der Hammond-Orgel ein. Überraschend war der ganz eigene Schluss des regulären Programms. Die Musiker samt ihrer Instrumente verließen die Bühne. Aber nicht nach hinten, sondern mitten in den Saal. Dort standen Sie dann, mit Kontrabass, Trompete, Saxophon, Snare-Drum und Stimme; eine kleine Combo inmitten von x-tausend verdutzten Zuhörern, die nicht wussten wie ihnen geschah. Nach einer halben Schreckminute wurden sich aber doch viele der Chance gewahr, die sich da bot und verließen die Sitze, um diesem elektrisierten und elektrisierenden Mann ganz nahe zu sein. So drängten sich die Menschen um das Quintett wie um die einzige Kerze bei nächtlichem Stromausfall. Doch ganz leise und unaufgeregt war es, beinahe familiär. Mit so etwas hatte keiner gerechnet. Es war wie Lagerfeuer ohne Lagerfeuer für große Kinder. Die Nummer war Justin Timberlakes "Cry me a river". Faszinierend.
Am Ende standen sie doch alle. Die alten wie die jungen.
Danach gab's kein Halten mehr (das Austria Center hört solchen Applaus sicher nicht alle Tage) und nach einer weiteren Nummer von einer jetzt von Fanarmen und Digitalkameras gesäumten Bühne mit mitsinggerechtem Refrain kam der Mann mit der Crisp-Stimme noch einmal, getragen von eben diesem enthusiastisch skandierten Chorus, auf die Bühne, um ein letztes Mal zwischen Schwarz und Weiß zu versinken. Wie bei allen Balladen zuvor wurde es wieder unglaublich still und so verabschiedete er sich sanft mit dem gleichnamigen Titelsong zum Clint Eastwood-Streifen "Gran Torino". Ich lehne mich jetzt weit aus dem Fenster und behaupte, es hat in der Geschichte der "Popmusik" noch keinen Künstler gegeben, der, was Musikalität, Kreativität, Vielseitigkeit, Technik und Unterhaltungsvermögen betrifft diesem quirligen Ein Meter Sechzig das Wasser zu reichen im Stande ist. Und dem so breite Sympathie entgegenschlägt. Mit seiner Natürlichkeit hat sein Erfolg sicher auch zu tun. Das Ergebnis: Nur wenige können einem so großen Publikum diese Palette zeigen und dürfen; heißt, haben die Möglichkeit, zu tun was sie wollen und damit gehört zu werden. (Text: Peter Baumgarten; Fotos: Jazzfest Wien)
Kurz-Infos:
Jamie Cullum live im Austria Center
Bewertung: @@@@@@
30. Mai 2010 im Rahmen von Jazzfest Wien