waits_tom_orphans Im Jahr 1973 veröffentlichte Tom Waits sein Debütalbum "Closing Time", ein Album, von dem er sich, wie in einem 1997 geführten Interview mit Bill Flanagan zu lesen war, distanziert, in dem er sagte: "Ich habe etwas Mühe mit diesen Songs, wenn ich sie höre. Ich höre meine frühen Songs nicht wirklich gerne. Ich nehme an, ich fühle, dass ich als Songwriter besser geworden bin." Das ist sicherlich auch der Grund weshalb jene 24 bislang unveröffentlichten Lieder auf "Orphans" aus dem Jahr 1982 oder noch jüngeren Datums sind.

Der Rest - 30 Lieder - sind überhaupt neue Kompositionen des Duos Tom Waits und Kathleen Brennan. Kurzum: "Orphans" ist also ein Gemisch aus Filmmusiken, Raritäten, Absurditäten und Neuem. Geniales wie die düster-rumpelnde Cover-Version "Sea of Love" (aus dem gleichnamigen Kinofilm mit Al Pacino, Ellen Barkin und John Goodman; Regie: Harold Becker; 1989; das Lied war leider nur im Abspann zu hören) oder - eine seiner besten Aufnahmen überhaupt - "What Keeps Mankind Alive" aus dem fantastischen Tribute-Album "Lost in the Stars: The Music of Kurt Weill" aus dem Jahr 1985 sind ebenso enthalten wie rätselhafte Miniaturen oder Spoken Words - so z.B., wenn Tom Waits aus Jack Kerouac's "On The Road" das Dreifachalbum beschließt.

Vom Bluessänger zum Liedzersetzer und wieder zurück zum besten Balladensänger

waits_tom2_danny_clinchwaits_tom3_danny_clinchZur Erinnerung: Tom Waits, der bis 1980 einfach ein guter (wenn nicht der beste bleich-gesichtige) Blues-Sänger war, verabschiedete sich mit dem kolossalen Bluesalbum "Heartattack & Vine" von seiner ersten Schaffensperiode als trinkwütiger und kettenrauchender Musiker. Ein Bruch in Würde. Mit dem 1976 erschienenen Album "Small Change" hinterließ er immerhin ein Meisterwerk, das den Zahn der Zeit bis heute locker standhält. Bevor er anfing die Hörgewohnheiten zu zersetzen, schuf er - quasi als Missing Link zwischen "Heartattack & Vine" (1980) und "Swordfishtrombones" (1983) den sehr gegensätzlichen Soundtrack "One From The Heart" zum gleichnamigen Kinofilm von Francis Ford Coppola. Diese schamlose Auslebung von quietschfreien Country-Schanieren (gemeinsam mit Country-Chanteuse Crystal Gayle) und verwegen-holpernden Arrangements ("You Can't Unring A Bell" singt Tom Waits z.B. in Begleitung einer Kesselpauke) führt ihn direkt in das Zentrum seiner zukünftigen Doppelkarriere: Einerseits als Schauspieler (zu sehen in Kinofilmen wie "The Outsiders", "Down By Law", "Ironweed", "Candy Mountain", "The Two Jakes", "Cold Feet", "Short Cuts", "Dracula"), andererseits als stilprägender Musiker. Sein Repertoire verdichtete sich fortan zu einem merkwürdigen Erzählstrom mit Erinnerungen und Widersprüchen, unglaublichen Instrumentenzusammenstellungen und Kantaten vollgespickt mit erinnerungswürdigen Liedtiteln und Textzeilen a la "You're innocent when you dream" oder "Never drive a car when you're dead" (aus: "Telefon Call from Istanbul"). Aber auch diese zweite Karrierestufe hatte ein Zeitlimit. Nach den drei Meisterwerken "Swordfishtrombones" (1983), "Rain Dogs" (1985) und "Franks Wild Years" (1987) - diese drei Alben sind auch als Trilogie zu betrachten - veröffentlichte Waits das wenig gelungene Live-Album "Big Time" (1988), das gleichzeitig auch als Soundtrack zum gleichnamigen Film herhielt. Dem folgten einige Jahre mit wenig bemerkenswertem Output, einem weiteren Soundtrack für den Kinofilm "Night on Earth" (1991), sowie - ohne seine Zustimmung allerdings - Kompilationen mit Liedern aus seiner frühen Schaffensperiode ("The Early Years", Vol. 1 und Vol. 2).

Alben für Mutige

waits_tom5_danny_clinchwaits_tom1_danny_clinch1992 war es dann wieder soweit und mit "Bone Machine" erfüllte Tom Waits die Begierden seiner Fangemeinde in Form eines modernen Blues- und Gospelalbums. Ein Album für Fortgeschrittene sozusagen. Ein Album, das ebenfalls jeglicher Zeit trotzt. Aber auch: Ein Album für Mutige. Dem setzte er im Jahr drauf mit "The Black Rider" eine Neufassung des "Freischütz" drauf. Osteuropäische Melancholie paarte sich da in Frankenstein'scher Manier mit Zirkusatmosphäre. Und dann war wieder Schluss mit lustig für Waits-Fans. Lange sechs Jahre musste gewartet werden, ehe Tom Waits und Kathleen Brennan sich wieder in ein Tonstudio bemühten um ein neues Album einzuspielen. Das Warten lohnte sich dafür. Und wie! "Mule Variations" (1999) präsentierte weniger einen abgewrackten Liedneurotiker und Sperrmüllsammler, sondern einen Volkssänger mit den schönsten Balladen zwischen Grinzing und Alabama. Nur drei Jahre später, also im Jahr 2002, gab es dann gleich einen Doppelschlag mit den hervorragenden Alben "Alice" und "Blood Money", und im Jahr 2004 schließlich folgte sein bisher letztes Studioalbum "Real Gone".

Brawlers Bawlers Bastards

Und nun also Orphans. Im Zentrum des 3-CD-Sets "Orphans" steht die Stimme von Tom Waits, der übrigens in einer Erklärung zur Veröffentlichung des Dreifachalbums ausrichten lässt: "I try my best to chug, stomp, weep, whisper, moan, wheeze, scat, blurt, rage, whine, and seduce. With my voice, I can sound like a girl, the boogieman, a Theremin, a cherry bomb, a clown, a doctor, a murderer...I can be tribal. Ironic. Or disturbed. My voice is really my instrument." Unterteilt ist das Dreifachalbum in "Brawlers", "Bawlers", "Bastards", wobei mir, Gesamt betrachtet, die Balladensammlung "Bawlers" am Besten gefällt. Alleine, weil Tom Waits für mich zu den besten Balladensängern aller Zeiten gehört. Gleich der Beginn dieser Liedsammlung ist derart bestechend, dass man alles rundum vergisst. "Bend Down the Branches" heißt dieses exzellente Stück Musik und vereint alles, was Tom Waits so originell und zum Original macht. Auf jeden einzelnen Song an dieser Stelle einzugehen, würde aber viel zu weit führen. "Orphans" ist für jene, die Tom Waits nicht kennen, ein hervorragender Einstieg. Und für alle anderen sowieso Pflicht.

Nachtrag, Klang betreffend:

Zur HiFi-Messe "KlangBilder" nahm ich unter anderem "Orphans" mit, um zumindest einige Lieder davon auf Anlagen zu hören, die im 5- bis 6-stelligen Euro-Bereich liegen. Weil: Der Schmäh von Tom Waits war ja immer auch, Störeffekte einzubauen, das Grindige hervorzuschälen, mit angeblichem LoFi zu punkten, Soundbrücken zu bauen, die in einem Meer unterzugehen drohten. Nun denn: Selbst im Hochpreissegmentierten HighEnd-Bereich halten die Lieder von Tom Waits Stand, mehr noch: hier entfalten sich bisweilen ungeahnte - und in jedem Fall so noch nie gehörte - Klangwelten mit feinst abgestimmten Soundgeräuschen, die sich als zarter Widerpart aus dem hintersten Eck des Lautsprechers befreien. Das Gute daran: Die Bastards bleiben solche. //

Text: Manfred Horak
Fotos: Danny Clinch

Album-Tipp:
Tom Waits - Orphans
Musik: @@@@@@
Klang: @@@@@@
Label/Vertrieb: Anti/Edel (3 CDs; 3 DoLP; 2006)

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