engel-des-vergessens-01Am Wiener Akademietheater inszeniert Georg Schmiedleitner Maja Haderlaps, mit dem Bachmann-Preis  2011 ausgezeichneten Debütroman, "Engel des Vergessens".

Vom Schnürboden sinken Bretter auf die Bühne herab, bis ein Wald entsteht. "Nur langsam werden sich die Anwesen aus der Umklammerung des Krieges befreien", sagt eine Schauspielerin aus einem fünfköpfigen Chor. Die anderen erzählen von Kärntner Wiesen und Feldern, die ihre Leichen auswerfen und ihre Toten ausgebrütet haben. Die Partisanenkämpfe der Kärntner Slowenen im Widerstand gegen das NS-Regime sind nicht für alle ausgestanden. Im Dickicht des Waldes irren Menschen herum - immer noch werden sie gejagt, in ihren Träumen und Erinnerungen. Auch ein Kind und eine junge Frau sind darunter - es sind die beiden Verkörperungen der Protagonistin von Maja Haderlaps autobiografischem Roman "Engel des Vergessens".

Hinter jedem Hügel ein Schlachtfeld

Alina Fritsch als "junges Ich" und Alexandra Henkel als "älteres Ich" spielen das Mädchen, das in den 1960er Jahren geboren wird und zur jungen Frau heranwächst. Die Unbeschwertheit der Kindheit ist getrübt durch traumatische Erinnerungen der Eltern und Großmutter: Verfolgung, Folter, Konzentrationslager, Ermordung von Angehörigen und andere Kriegs-Gräuel. Dazwischen familiäre Grabenkämpfe der Zerrütteten. Jeder bleibt ein einsames Opfer, das nach Anerkennung seiner  Narben schreit. Für die Tochter und Enkelin, zwar Kind des Friedens, wird der Versuch zu vergessen zur Lebensaufgabe.

Szenische Fassung nahe der Romanvorlage

engel-des-vergessens-03engel-des-vergessens-02Regisseur Georg Schmiedleitner fand im Team mit Autorin Maja Haderlap eine szenische Fassung, die in der Erzählung - trotz stringenter Straffung - sehr nahe der Romanvorlage bleibt. Passagen des sehr lyrisch verfassten Romans fließen in die Figur des älteren Ichs als reflektierende Stimme. Während Alina Fritsch mit angstgeweiteten Augen Situationen erlebt, kann das reifere Ich, Alexandra Henkel, dazwischentreten. Es schafft Distanz, betrachtet das Drama aus der sicheren Position des Danach. Im zweiten Teil bleibt das junge Ich, quasi als Schlagschatten der Seele, meist stumm präsent. Der Übergang vom Mädchen zur jungen Frau ist nahtlos, wenn das Kind zur Großmutter (grandios, Elisabeth Orth) ins Bett kriecht und die Ältere hinzutritt. Erwacht die Großmutter, ist eine neue Zeit angebrochen, die Beziehung bröckelt schon.

Als durchgängige Figuren gezeichnet, treten neben der Großmutter noch die kämpferische Mutter, Petra Morzé und der Vater auf, der in Gregor Bloéb eine ideale Besetzung gefunden hat. Der fünfköpfige Chor verkörpert Dorfbewohner und Verwandte oder kommentiert: Sabine Haupt, Sven Dolinski, Michael Masula, Rudolf Melichar und André Meyer deklamieren leider phasenweise arg bemüht. Weniger wäre hier mehr.

Zerrissen zwischen den Altvorderen

Der erste Auftritt von Gregor Bloéb als Vater hat Symbolcharakter: Er kracht auf den Bühnenboden und bleibt leblos liegen. Ein Motorradunfall. Die Tochter eilt ihm zu Hilfe. Seine ersten Schritte - volltrunkenes Torkeln. Gregor Bloéb spielt den Vater überzeugend als Mann, dem die Kriegserlebnisse in seiner Kindheit noch immer den Schlaf rauben, der den Schmerz in Alkohol und maßloser Wut zu ertränken sucht. Als jemand, der mit schwelender Todessehnsucht und Wahn mit einer Flinte durch den Wald rennt, sein Kind bedroht und zur wandelnden Zeitbombe für seine Familie wird.

Auf dem Boden der Vergangenheit erweist sich die Zukunft als Leichtgewicht

Sowohl das Mädchen als auch die junge Frau stehen zwischen den verhärteten Fronten der Altvorderen. Elisabeth Orth spielt die Alte mit rauer Zärtlichkeit. Sie weiht die Junge in ihre Erlebnisse im Krieg, den Partisanenkämpfen und ihre Internierung im KZ Ravensbrück ein. Die Mutter hingegen möchte die Kleine vor den Grausamkeiten der Familiengeschichte bewahren. Mit Zähnen und Klauen kämpft sie gegen den Vater und die Großmutter um die Ausbildung ihrer Tochter. Als das Mädchen seinem Vater näherkommt, blickt es in einen Abgrund. Die Drohung seines Selbstmordes steht immer im Raum, denn er wurde als Kind gefoltert und nach dem Verbleib seines Vaters, der mit den Partisanen kämpfte, verhört. "Auf dem Boden der Vergangenheit erweist sich die Zukunft als Leichtgewicht", lernt die Protagonistin.

Über weite Strecken geglückt

"Engel des Vergessens" auf die Bühne zu transferieren, ist über weite Strecken geglückt. Schmiedleitners Regie findet prägnant-schlichte, poetische Bilder und effiziente Szenenübergänge - meist nur durch minimale Details, dezente Lichtwechsel und Musik. Live-Musiker Matthias Jakisic und Andreas Radovan begleiten, schaffen Stimmungen und rhythmisieren. Während die Hauptfiguren durchwegs überzeugen, bleibt der "Chor" von fünf Nebenfiguren unausgegoren, zu sehr der Sprache verhaftet. Auch Sabine Haupt als Großtante bleibt pädagogisch und verliert an Glaubwürdigkeit. (Text: Veronika Krenn; Fotos: Georg Soulek)

engel-des-vergessens-04Kurz-Infos:
Engel des Vergessens
Bewertung: @@@@
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
Kritik zur Uraufführung am 8.9.2015
Akademietheater Wien

Von: Maja Haderlap
Bühnenfassung: Maja Haderlap und Georg Schmiedleitner
Regie: Georg Schmiedleitner
Bühne: Volker Hintermeier
Kostüme: Su Bühler
Musik: Matthias Jakisic
Licht: Peter Bandl
Dramaturgie: Florian Hirsch

Mit: Elisabeth Orth, Petra Morzé, Gregor Bloéb, Alina Fritsch, Alexandra Henkel, Sabine Haupt, Sven Dolinski, Michael Masula, Rudolf Melichar, André Meyer, Matthias Jakisic, Andreas Radovan