Über die Geometrie des Raumes, in denen orgiastische Vereinigungen und grausame Spiele als Facetten des Lebens zelebriert werden. "Radical vitality, solos und duets" nennt die kanadische Ausnahme-Choreografin Marie Chouinard ihre Retrospektive, die im Volkstheater einen Abend lang so zauber- wie rätselhaften Wesen eine Bühne gibt. Die Tanzdirektorin der Biennale di Venezia beleuchtet Menschliches in seiner Schönheit und seinen Makeln, seiner Zärtlichkeit und seiner Grausamkeit.
Einen Kübel in der rechten Hand, in der linken ein Glas Wasser.
Ein stolzes Wesen, mit goldenem Lendenschurz und Glöckchen in der Hand, läutet Marie Chouinards Retrospektive auf der Volkstheaterbühne ein. Edle Fell-Ohrenschützer und Fell um die Fußfesseln schreitet die Tänzerin Carol Prieur grazil über die Bühne. Kokett lässt sie das Glöckchen in ihr goldenes Höschen wandern, es scheint im Körper seine Runden zu drehen und liebevoll aus dem Mund wieder herausgewürgt zu werden. Klingeling und das erste zauberhafte Wesen verlässt die Bühne. Ebenso stolz und grazil tritt in Szene Zwei "Petite danse sans nom" die Tänzerin Chatherine Dagenais-Savard auf. Zur Weltpremiere im Jahr 1980 performte Marie Chouinard selbst diesen - damals revolutionären - Part. Einen Kübel in der rechten Hand, in der linken ein Glas Wasser. In einem Zug ist das Glas geleert, der Kübel platziert und sie schwingt ihr Bein grazil mittig darüber - tropf, tropf - schon entleert sie, mit unbeugsamem Blick ins Publikum, stolz das Wasser, das sie gerade zu sich genommen hat.
Wenn der Mensch im Klammergriff von unsichtbaren Mächten über die Bühne geschoben wird
Szenen wie diese beiden locken das Publikum in eine Welt voll liebevollem Humor für die groteske Schönheit des menschlichen Seins. Es sollen da viele folgen, in denen die Zeit aus den Fugen gerät, in denen orgiastische Vereinigungen und grausame Spiele als Facetten des Lebens zelebriert werden. Szenen, in denen der Mensch mit seinen Krücken, Dellen und Absonderlichkeiten wie ein großes Kunstwerk seine Verewigung findet. Szenen, in denen der Mensch im Klammergriff von unsichtbaren Mächten über die Bühne geschoben wird, wie ein Backwerk, das von Maschinen in Form gezerrt und gebogen wird. Und Szenen, in denen menschliche Züge mit Fabel- oder Insektenwesen verschmelzen, wie in S.T.A.B (Space, Time and Beyond). Den Part von Marie Chouinard aus dem Jahr 1986 tanzt heute eine grandiose Motrya Kozbur, mit schepperndem Metall an ihren schweren Beinen, mit denen sie auf den Boden schlägt, während sich ihr Körper keuchend aufbäumt und ängstlich aufplustert. An ihrem Kopf ein überdimensionaler Fühler, mit dem sie um sich schlägt. Ein herrlicher Abend von 30 Szenen, an denen man sich schwer sattsehen kann. Die Einblicke in das Frühwerk der kanadischen Choreografin erlauben, deren große abendfüllende Arbeiten sowohl bei ImPulsTanz als auch im Festspielhaus St. Pölten schon in den vergangenen Jahren begeisterten.
Die Vermessung der Bühne
Marie Chouinards Retrospektive ist der erste große ImPulsTanz-Höhepunkt - nach Anne Teresa De Keersmaekers "Mitten wir im Leben sind/Bach6Cellosuiten" zu Beginn des Festivals. Eine Arbeit die auf der großen Burgtheaterbühne allerdings nur zum Teil ihren Fokus fand. Welt-Cellist Jean-Guihen Queyras interpretiert Bachs Cello-Suiten mittig auf der Bühne, während drei Tänzer und zwei Tänzerinnen um ihn herum die Bühne vermessen. Zu Beginn jeder Bach-Suite wechselt Queyras seine Position und damit den Fokus. De Keersmaekers Bewegungsvokabular versucht die Geometrie des Raumes zu erfassen, oft mit Alltagsbewegungen, wie Laufen und Sprüngen. Während die Tänzerin Marie Goudot mit ihrer sagenhaften Präsenz und Präzision die Aufmerksamkeit sofort auf sich zieht, wirken die Bewegungen der Tänzer oft kraftlos, chaotisch und verloren in dem großen Raum.
Geschichte des Samplings und Geister der Vergangenheit
Eröffnet wurde das Festival im MUMOK mit einer etwas überfordernden aber spannenden Arbeit des Ja, Panik-Sängers Andreas Spechtl, gemeinsam mit Theaterautor Thomas Köck. Die beiden widmen sich mit "ghostdance" der Geschichte des Samplings und den Geistern der Vergangenheit, die in der Gegenwart als Untote wiederkehren. Die 8:tension-Nachwuchs-Reihe fand ihre Eröffnung mit einer Arbeit des langjährigen Batsheva-Dance-Company-Tänzers Shamel Pitts. Gemeinsam mit der androgynen Tänzerin Mirelle Martins performte er "Black Velvet - Architectures and Archetypes", eine Arbeit, die für einen 8:tension-Beitrag wohltuend konkret ausfällt und dementsprechend beim Publikum großen Anklang fand. Die Körper der beiden Tänzer symbolisieren dabei eine Art synthetische Menschenwesen, die stereotypisierte menschliche Verhaltensweisen reproduzieren.
Experimentelle Klassiker und andere Altmeister
Mit Reproduktion beschäftigt sich auch Christine Gaigg in V-Trike, das gemeinsam mit dem Komponisten Bernhard Lang, dem Live-Elektroniker Winfried Ritsch und der Tänzerin Veronika Zott schon 2007 entstand. In diesem experimentellen Klassiker werden Tänzerin und Maschinen - Computer, Sound und Video - aufeinander losgelassen und interagieren miteinander. Das ist interessant, obwohl die 38 Sequenzen für die ungeübten Zuseher/innen wohl zu schnell vorübergehen, um zu erfassen, welche Interaktionen tatsächlich stattgefunden haben. Gaiggs zweite Arbeit "Meet" ist noch bis 31. Juli 2018 in den MUMOK Hofstallungen zu sehen. Bis 12. August 2018 sind noch zahlreiche weitere Arbeiten im Rahmen von ImPulsTanz 2018 zu sehen, etwa "Apollon" von Florentina Holzinger und "Insect Train", das sie gemeinsam mit Cecilia Bengolea performt. Altmeister Jan Fabres zeigt "The generosity of Dorcas", Chris Haring/Liquid Loft "Foreign Tonques Babylon (Slang)" und Simon Mayer "Oh Magic", um nur eine kleine Auswahl zu treffen. //
Text: © Veronika Krenn
Fotos: © Alex Apt, Radovan Dranga, Sylvie-Ann Paré, Nicolas Ruel