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taste-the-waste-001Einmal im Jahr befüllt Europa Lastwägen mit weggeworfenen Lebensmitteln. Die dadurch entstandene Lastwagenkolonne reicht rund um den Äquator. Mit dem Essen, das wir in Europa und Nordamerika wegwerfen, könnten alle Hungernden der Welt dreimal satt werden. Dabei wäre es so einfach, diesem Irrsinn ein Ende zu bereiten. Wie - das zeigt Valentin Thurn im Dokumentarfilm "Taste the Waste".




Aufklärungsdokus liegen im Trend, ob es sich nun um die Globalisierung von Lebensmittelkonzernen ("We feed the world") oder das Ernährungsverhalten einzelner ("Supersize me") handelt - die kritische Haltung ist längst Lifestyle geworden. "Taste the Waste" springt auf den Zug auf, zeitgemäß skeptisch und sehenswert.

Mülltauchen gegen die Vergeudung

Impulsgeber für diese Doku war ein Zusammentreffen mit den Mülltauchern, Menschen, die sich fast ausschließlich von nicht verdorbenen, aber weggeworfenen Lebensmitteln ernähren. Regisseur Valentin Thurn, selbst bekennender gutbügerlicher Familienvater, der "Mülltauchen allein vom Tagesablauf her" in seinem Leben nicht unterbringt, will Menschen für das Thema Lebensmittelverschwendung sensibilisieren - durchschnittlich landen täglich (!) 45 (!) Kilogramm noch nicht verdorbene Lebensmittel pro Supermarktfiliale im Müll - er versucht dabei aber nicht nur Hintergründe der Vergeudung aufzudecken, sondern auch beispielhafte Lösungsvorschläge zu präsentieren.

Lebensmittelhandelgrotesken

Die Recherchen zum Film nahmen über ein Jahr in Anspruch, herausgekommen ist eine solide Gegenüberstellung von absurden Fakten unserer globalisierten Lebensmittelwelt und Projekten einzelner, die der Vergeudung von Ressourcen entgegentreten versuchen. Thurn inszeniert aus der Aha-Perspektive: viele Kameraschwenks und  lange Einstellungen, die in weiten Teilen offensichtlich freihändig gedreht wurden, machen den Zuschauer, dem nach Grotesken wie dem Gerade-Gurken-Gesetz und dem Erdäpfel-Nacktscanner ohnehin flau im Magen ist, vollends schwindelig. Ob dem Amateurhaften eine Absicht zu Grunde liegt oder zufällig den naiven Blick von Otto Normalverbraucher unterstreichen will, sei dahin gestellt.

Es gibt nicht nur die Guten und die Bösen

Die Musik begleitet die Bilder nach dem Motto Zurück zum Ursprung: Sparsam eingesetzt - Meeresrauschen zu traurigen, weggeworfenen Meerestieren inklusive - und erinnert streckenweise sogar an einen Roadmovie. Und irgendwie ist es auch ein Roadmovie, den Thurn da gedreht hat: mangels Kooperation der deutschen und österreichischen Supermarktketten ("Bei uns wird nichts weggeworfen") musste er unter anderem auf französische Märkte ausweichen, deren Filialleiter und Angestellte sehr offenherzig aus dem Alltag plaudern: Lebensmittel, die mitunter bereits sechs Tage vor Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums im Müll landen, um in den Regalen Platz für die neuen, frischen Waren zu machen. Oder die japanischen Supermärkte, die das Ablaufdatum um eine präzise Uhrzeit erweitert haben. "Es gibt nicht nur die Guten und die Bösen" versucht uns Thurn während der gesamten 90  Minuten zu zeigen - es gibt nur eine Mitverantwortung, auch und nicht zuletzt vom Konsumenten.

Unser Wegwerfen von Lebensmitteln führt indirekt zum Hunger in der Welt

Wagen wir einen Blick zurück, warum wir überhaupt in dieses Dilemma kamen. In "Haben oder Sein - die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft" mahnte der Psychoanalytiker und Sozialphilosoph Erich Fromm im Jahr 1976: "Wir waren im Begriff, Götter zu werden, mächtige Wesen, die eine zweite Welt erschaffen konnten, wobei uns die Natur nur die Bausteine für unsere neue Schöpfung zu liefern brauchte." Aus dem ursprünglichen Vorhaben jedenfalls, Wissen als Macht einzusetzen und sich der Natur zu unterwerfen, um diese nutzen zu können, passierte das genaue Gegenteil, ein Fatalismus: Aus den von uns geschaffenen wissenschaftlich-technischen Möglichkeiten wurden wir so gierig die Natur zu unterwerfen, um sie auszubeuten. "Unser Wegwerfen von Lebensmitteln führt indirekt zum Hunger in der Welt", erklärt denn auch Prof. Joachim von Braun vom Zentrum für Entwicklungsforschung in Bonn, und so wie er es vor der Filmkamera erklärt ist es keine abstruse Theorie, sondern entspricht einer sachlich fundierten und logischen wie grausamen Tatsache.

Beängstigend und beschämend

Die Botschaft ist also klar, streckenweise versinkt der Zuschauer aber in komplexen Zusammenhängen wie Lebensmittelrecht, Müllwissenschaften und Preiszusammensetzung von Getreideimporten. Beeindruckend und beängstigend sind allerdings die Bilder: und beschämend welchen Lärm eine Tonne frisches Brot macht, die vom LKW auf die Deponie gekippt wird. Dem unglaublichen, weltweit vernetzten Ausmaß der Verschwendung und Entwertung von Lebensmitteln, angesichts von Hungerkatastrophen im bequemen Kinosessel zu verfolgen ist nicht nur schmerzhaft, sondern auch unglaublich ermüdend. Und gerade deshalb ein Muss.

Halbierung ist gefordert

Tomaten die zu groß sind, erfahren wir, dürfen nicht verkauft werden. Äpfel, die zu klein sind, nehmen wir staunend zur Kenntnis, dürfen nicht verkauft werden. Lebensmittel, die in sechs Tagen ablaufen, hören wir mit Unverständnis, werden nicht mehr verkauft. Methangas, werden wir verwöhnte Mitteleuropäer erinnert, ist ein Klimakiller, das auch die Ozonschicht zerstört. Lebensmittelmüll produziert Methangas, und zwar jede Menge, konkret, 15 Prozent der globalen Methan-Emissionen. Die Reduzierung von Methangas ist allerdings leichter möglich, als viele vielleicht vermuten würden, wir brauchen nämlich nur halb so viel Lebensmittel wegwerfen wie bisher. Die Halbierung des Lebensmittelmülls würde übrigens ebenso viele Klimagase vermeiden wie die Stilllegung jedes zweiten Autos. Ein älterer Mann sagt in die Kamera schließlich: "Der Kühlschrank ist ein Familiengrab." In einer dynamischen Abfolge von bebilderten Fakten und eingeblendeten, stummen Thesen ("mit dem Essen, das in Nordamerika und Europa weggeworfen wird, könnten alle Hungernden der Welt satt werden") stellt Thurn Konzepte gegenüber, die der Verschwendung von Ressourcen und Manpower entgegenwirken will - kleinere Projekte wie z. B. die Rooftop Farms oder Stadt-Imkereien in Manhattan oder Brooklyn genauso wie größere - z.B. die Berliner Tafel - bis hin zu den internationalen, ganz großen Vereinigungen wie Slow Food. Und wir sehen natürlich auch die Impulsgeber des Films, Personen, die sich der bereits im Müll gelandeten, jedoch nicht verdorbenen Lebensmittel annehmen, damit es endlich dorthin kommt, wo es hingehört: auf den Speiseteller. Starker Film. (Text: Anne Aschenbrenner und Manfred Horak; Fotos: © POOOL Filmverleih GmbH)

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Film-Tipp:
Taste the Waste
Bewertung: @@@@@
Ein Film von Valentin Thurn
Dokumentarfilm, Deutschland, 2011, 88min
digital, 35mm, BluRay, DVD
Verleih: Poool Filmverleih


Trailer