Wie stehen geblieben wirkt die Zeit in Arash T. Riahis Dokumentarfilm "Nerven Bruch Zusammen". Riahi begleitet Frauen, die in einem Übergangsheim der Caritas leben, bei ihren manchmal verzweifelten Versuchen, alte Wunden zu heilen und ein neues Leben zu beginnen. Von Alexandra Rotter.
"Mein ganzes Leben ist in diesen Kisten drin", sagt Daniela, die eine Ladung Umzugskartons geliefert bekommen hat - Kartons, die ihr Mann schon fast versteigert hätte. Die Kisten bergen den Schatz ihrer Vergangenheit, aus besseren Zeiten, in denen sie noch träumen konnte. Sie zu öffnen, ist mehr als eine Kraftprobe für die Frau, die jetzt im Haus Miriam lebt, einem Heim der Caritas in Wien, das obdachlosen Frauen vorübergehend ein Dach über dem Kopf bietet. Am schlimmsten ist für Daniela, dass sie ihre beiden Söhne nicht sehen darf - und diese den Kontakt zu ihr auch offenbar gar nicht wollen. Sie leidet so sehr unter der Situation, dass sie das Auspacken der Kisten unter Tränen unterbrechen muss und dann wieder, in einem Schaukelstuhl davor sitzend, ihr "ganzes Leben" bewegungslos betrachtet.
Zehn Jahre vergangen
Daniela ist eine von mehreren Frauen aus dem Haus Miriam, die der Regisseur Arash T. Riahi im Dokumentarfilm "Nerven Bruch Zusammen" mit der Kamera begleitet. Riahi hat 2000 und 2001 seinen Zivildienst im Haus Miriam absolviert und schon damals begonnen, einzelne Bewohnerinnen zu filmen. Neben den aktuellen begleitet er auch vereinzelt diese ehemaligen Bewohnerinnen, darunter eine syrischstämmige Frau mit einem kleinen Sohn. Zunächst sieht es so aus, als hätte sie ein neues, glückliches Leben gestartet, denn sie hat wieder geheiratet und liebt ihren Mann. Doch dann haut dieser in seine Heimat Algerien ab, will lange nicht mit ihr sprechen, bis er ihr sagt, sie solle zu ihm kommen. Sie fürchtet, dass sich die Geschichte wiederholt und ihr wieder das Kind weggenommen wird, wie damals die beiden ersten Kinder, die sie seither nicht mehr gesehen hat. Sie macht erneut eine Zeit der Qualen durch, in der sie sich nicht entscheiden kann, ob sie um das Sorgerecht für ihr Kind kämpfen oder sich selbst aufgeben und ihrem Mann folgen soll.
Unbewältigte Vergangenheit
Nicht von allen Bewohnerinnen erfährt man, warum sie hier gelandet sind. Klar ist aber: Sie alle haben tief sitzende Probleme. Alkoholismus, Medikamentenabhängigkeit, psychische Probleme sind ihnen nicht unbekannt. Sie sagen Sätze wie "Ich fühle überhaupt nichts, ich fühle mich tot", und "Mein Mann hätte mich umgebracht", oder "Ich bin das schwarze Schaf der Familie". Erstaunlicherweise schafft dieser berührende Dokumentarfilm, nicht verzweifelt zu wirken. Die langsamen Kamerafahrten stimmen nachdenklich. Oft entsteht der Eindruck von Stillstand. Manche der Frauen kauen mit Betreuerinnen und Psychologinnen immer wieder dieselben Themen durch. Sie müssen erst die "Vergangenheitskiste" bewältigen, bis sie in ihre Zukunft aufbrechen können. Immer wieder können sie aber auch abschalten oder positiv nach vorne blicken, etwa bei gemeinsamen Wanderungen, beim Weihnachtsfest oder wenn sie sich gegenseitig gut zureden. Riahi hat mit "Nerven Bruch Zusammen" ein weiteres wertvolles Kapitel des österreichischen Dokumentarfilms geschrieben und würde dafür weitere Auszeichnungen - wie er sie schon unter anderem für den Dokumentarfilm "Exile Family Movie" und den Spielfilm "Ein Augenblick Freiheit" erhalten hat - verdienen. Die nächste Chance dazu hat der Film bei der Diagonale 2013 in Graz Mitte März. (rot)
Film-Tipp:
Nerven Bruch Zusammen
Bewertung: @@@@@
Regie: Arash T. Riahi
94 Minuten, Farbe
Verleih: Stadtkino Filmverleih
Kinostart Österreich: 1. März 2013
Link-Tipp:
Interview mit Arash T. Riahi