Ein Film aus dem Jahr 1942 eröffnete das 27. Internationale Kinderfilmfestival am 14.11.2015 im Gartenbau Kino. Gezeigt wurde der erste Film des Neorealismus, Aniki Bóbó von Manoel de Oliveira.
Im Jahr 1942 wurde der Begriff Neorealismus vom italienischen Filmtheoretiker Umberto Barbaro geprägt und war in erster Linie ein moralischer Begriff, eine Antwort auf den Faschismus in Italien. Neorealistische Filme sollten die ungeschminkte Wirklichkeit des einfachen Volkes zeigen. Der erste Film im Zuge des neu geschaffenen Begriffes entstand allerdings weder in Italien noch in Frankreich, sondern in Portugal - eben jener Film, der beim Kinderfilmfestival 2015 bei der Eröffnung gezeigt wurde.
Aniki Bóbó von Manoel de Oliveira wurde mit auch für damalige Verhältnisse äußerst bescheidenen finanziellen Mitteln umgesetzt (ca. 3.750 Euro) und mit einer Handvoll erwachsenen Schauspielern, während die Kinder Laienschauspieler waren. So bescheiden wie das Budget war zunächst auch der Erfolg. Erst Jahrzehnte danach, im Jahr 1961, erhielt Aniki Bóbó späte Anerkennung und das in Cannes verliehene "Ehrendiplom der II. Bewegung des Kinos für die Jugend". Seither gilt Aniki Bóbó nicht nur als Klassiker im Neorealismus, sondern auch als einer der ganz großen Herzeigefilme im Kinderfilmgenre. Man merkt dem Film deutlich an, dass der Regisseur Manoel de Oliveira bereits im Stummfilmzeitalter wirkte, viele Szenen haben diesbezügliche Slapstick-Anleihen und vieles im Film geht sich auch ohne Textstellen aus. Der Film sei eine Botschaft des Friedens, betonte Oliveira immer wieder. Und tatsächlich entpuppt sich der Film auch heute inmitten kriegerischen und terroristischen Aktionen als eine zarte Pflanze, schließlich geht es um Liebe.
Carlitos ist in Teresinha verliebt, aber Carlitos hat einen starken Konkurrenten in der Kinderbande: Eduardo, der gewandter und weniger schüchtern ist als er. Die Rivalität zwischen den beiden schaukelt sich immer mehr hoch und aus der vordergründig einfachen Liebesgeschichte heraus entwickelt sich ein spannender Film für Menschen ab sieben Jahren. Carlitos, der eine Puppe aus dem "Laden voller Verlockungen" für Teresinha stahl, ihr jedoch vorlügt, dass er die Puppe von seinem Ersparten gekauft hat, kommt damit seinem Ziel ihre Liebe für sich zu gewinnen, näher. Allerdings nur so lange, bis ihm fälschlicherweise vorgeworfen wird, dass er seinen Rivalen Eduardo beim Spielen den Hang hinab vor einen Zug stieß. Aber keine Bange: Happy End fand auch im Neorealismus statt. Der Inhaber des Ladens beendet schließlich den Unfrieden. Die jungen Laiendarstellen agierten erstaunlich professionell, die Kamera fing das verträumte Lächeln von Teresinha ebenso eindrucksvoll ein wie auch all die kleinen liebevollen Gesten, woraus eine beeindruckende Bildsprache entstand, die, heute zu sehen, erstaunlich wenig Patina ansetzte. Ein Film also, der zurecht als Klassiker gilt, und den man unbedingt zumindest einmal gesehen haben sollte. Zwei weitere Gelegenheiten gibt es beim Kinderfilmfestival 2015. (Manfred Horak)