Die Argumente und Gegenargumente der Frage "Diagnose oder Mensch" werden im Dokumentarfilm "Anomalie" vom Regisseur Richard Wilhelmer treffend in Szene gesetzt. Zu Beginn unterstreicht eine leicht wackelige Kamerabewegung die Alltagserlebnisse des unfreiwilligen Psychiatrie-Erfahrenen, während die klar-fokussierte, regungslose Kameraführung statistische Fakten und Erklärungen betont. Gleichzeitig wird der Film von einer langsamen, psychedelischen Musik untermalt, als würde der Regisseur die Widersprüchlichkeit gewisser Aussagen zur Geltung bringen wollen.
Das ist eine Diagnose!
Für die Psychiaterin Adelheid Kastner ist die Beantwortung klar, als sie das Video eines schnell sprechenden und zerzausten Mannes sieht: "Das ist eine Diagnose!" Der Mann selber sieht das anders. Der scheinbar heruntergekommene Mann befindet sich mit einem Scooter am Friedhof und spricht schnell und undeutlich von berühmten Verstorbenen. Er erfüllt gesellschaftliche Klischees eines psychisch Kranken. Fritz Joachim Rudert trägt eine Warnweste, wirkt verschmutzt und hat einige befüllte Plastiksackerln auf seinem Lenker. Zusätzlich redet er wirres Zeug - auf den ersten Blick. Anhand der Aufnahmen von Rudert bekommt der Zuschauer einen zweiten Blick.
Inwieweit ist der Mensch messbar?
Rudert ist ein Mann, der seine Kräfte ohne Scheu dahingehend einsetzt, dass Zwangsbehandlungen verboten werden. Er fordert eine "Enthinderung" der Menschen und kritisiert Diagnosen als "Behinderung". Diagnosen, die durch Messungen oder das Abhaken von Listen im DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) erstellt werden. Doch inwieweit ist der Mensch messbar? Kann man einen Menschen, wie die Höhe eines Tisches abmessen? Die Psychiater vertreten ihren Standpunkt im Film klar, doch bei genauerem Zuhören legen sich Widersprüche offen dar. Es werden Diagnosen durch wissenschaftliche Studien erklärt, um dann individuelle Therapien anzupreisen. "Anomalie" wurde im Rahmen der Diagonale 2018 gezeigt und lässt die Spiegelmauern der Gesellschaft ein wenig mehr durchsichtig erscheinen. //
Text: Lena Weiner
Fotos: Richard Wilhelmer
Diese Filmkritik entstand beim Workshop "Filmkritiken schreiben" im Rahmen der Diagonale 2018 unter der Leitung von Manfred Horak (Kulturwoche.at) in Kooperation mit Diagonale - Festival des österreichischen Films, Kleine Zeitung und Radio Helsinki. Bei Radio Helsinki entstand mit der Moderatorin Irene Meinitzer auch nachfolgende 60-minütige Live-Sendung.
Film-Info:
Anomalie
Bewertung: @@@@
Dokumentarfilm, AT 2018, 81 min
Regie: Richard Wilhelmer
Buch: Richard Wilhelmer, Daniel Haingartner
Kamera: Serafin Spitzer
Schnitt: Alexander Murygin
Sprecherin: Anja Stadlober
Tongestaltung: Karim Weth
Tonschnitt und Mischung: Alexander Koller