Anregungen zur Rückkehr in eine seriöse Auseinandersetzung bzw. Nachträge zu einer Preisverleihungsdiskussion.
Ein ebenso groteskes wie unwürdiges Schauspiel ist im Gange. Kritiker/innen Peter Handkes überbieten sich darin, Peter Handke den Literatur-Nobelpreis moralisch abzuerkennen. Auch absurdeste Vorwürfe sind willkommen, wie beispielsweise, dass in Zeiten von #MeToo mit Handke ein "alter weißer Mann" ausgezeichnet worden sei.
Der Ton in der Auseinandersetzung ist längst diskriminierend geworden. Er regt aber anscheinend niemanden mehr auf oder es legt niemand mehr Wert auf eine andere Verkehrsform. Es ist unerheblich geworden, ob eine Behauptung stimmt, sobald sie gemacht wurde, wird sie als Tatsache hingenommen. Tatsache ist und bleibt jedoch: Peter Handke wurde der Literatur-Nobelpreis für sein ebenso umfangreiches wie herausragendes literarisches Lebenswerk zugesprochen, er hat ihn nicht für den einzigen richtigen Umgang mit dem gesamteuropäischen Kriegstrauma der Balkankriege erhalten.
Wenn aber schon die von ihrer Dimension her vollkommen überbewertete und überstrapazierte Rolle Peter Handkes in dieser Frage thematisiert werden soll, dann muss auch die Rolle Deutschlands als Krieg führendes Land, dann muss auch die Rolle der NATO als bombardierendes Militärbündnis und die Rolle der Kriegspropaganda auf Seiten der NATO, dann müssen auch die wissentlichen Lügen involvierter Politiker, warum Krieg geführt werden musste und dann muss selbst die Rolle der UN-Friedenstruppen in ex-Jugoslawien thematisiert werden. Das alles steht in einem engen Zusammenhang mit der Positionierung Handkes und zahlreicher anderer Kunst- und Kulturschaffender in bzw. zu den Balkankriegen. Es ist aber bisher nie jemandem eingefallen, die UNO samt ihrem damaligen Generalsekretär der Unterstützung Milosevics zu bezichtigen, weil sie das Mandat zur Bombardierung Belgrads und anderer Ziele in Serbien verweigert hat. Es ist bisher niemandem eingefallen, hilflosen UN-Friedenstruppen Befürwortung oder Beihilfe zu unterstellen, weil es ihnen nicht gelang, Kriegsverbrechen zu verhindern. Und es ist auch kaum jemandem aufgefallen, wie oft in den letzten Jahren von der längsten Friedensperiode innerhalb Europas dank der EU gesprochen wurde, ohne auch nur eine Sekunde an die Balkankriege zu denken.
Freilich sind das Überlegungen aus einer Zeit vor den "sozialen Medien", seither herrscht ein anderer Ton und ein ausgelöschtes Gedächtnis. Mittlerweile leidet leider auch die Öffentlichkeit außerhalb der sozialen Medien immer mehr daran. Ob etwas sachlich richtig oder falsch ist, die elementare Voraussetzung für jede Auseinandersetzung, ob etwas halbwahr, unwahr oder wahr ist, interessiert kaum noch jemanden. Es geht um Quote, Reichweite, Effekte, um das Erheischen von Aufmerksamkeit, Zustimmung und Beifall. Auf der Strecke bleiben die Fakten, zurück bleibt ein vergiftetes Klima.
Ob und worauf und warum Peter Handke genervt auf Vorwürfe reagiert, ist ganz und gar allein seine Angelegenheit, etwas über sein Werden seit den 1960er Jahren und sein vielschichtiges, vielfältiges Lebenswerk zu vermitteln, ist hingegen Sache der Öffentlichkeit und ebenso ist es Sache der Öffentlichkeit, die Substanz von Vorwürfen anhand von Quellen zu überprüfen.
Es müsste doch eigentlich inzwischen irgendjemandem aufgefallen sein, dass es wenigstens ein paar Hinweise auf eine deutlich widersprüchlichere Haltung Handkes zu den Balkankriegen gibt als behauptet, die jedem eindimensional gezeichneten Bild widersprechen. So hat es Handke z.B. abgelehnt, als Entlastungszeuge für Milosevic beim Den Haager Kriegsverbrechertribunal auszusagen und er hat seine Teilnahme an der Beerdigung Milosevics und seine zur Grabrede hochstilisierten Abschiedsworte für Milosevic anstelle eines Interviews im Magazin "Focus" offengelegt, wo sie bis heute nachgelesen werden können.
Podcast "Peter Handke und der Literaturnobelpreis"
Es gab in den letzten Jahren sicher keinen Literatur-Nobelpreis, wo an einem/einer Preisträger/in nicht etwas ausgesetzt wurde, wenn auch nicht immer in aller medialer Breite. Auch der dem Literatur-Nobelpreis abverlangte angeblich bestehende Anspruch an einen untadeligen Leumund eines/einer Nobelpreisträger/in ist nur eine Anlasskonstruktion. 1961 erhielt Ivo Andric den Literatur-Nobelpreis. Am Buchumschlag des eben im Zsolnay Verlag über ihn erschienenen Porträts von Michael Martens heißt es: "Ein Schriftsteller, der als Diplomat mit Hitler Geburtstag feiert, mit Göring über Waffenlieferungen verhandelt, als Gast Stalins nach Moskau reist und nachts Weltliteratur verfasst, selten hat es ein bemerkenswerteres Dichterleben als das von Ivo Andric gegeben." Und genauso sind Proteste nationaler PEN-Clubs nicht neu. Als der deutsche Autor Heinrich Böll 1972 den Literatur-Nobelpreis erhielt, trat der österreichischer PEN-Club Präsident Alexander Lernet Holenia aus Protest gegen diese Entscheidung von seiner Funktion im österreichischen PEN-Club zurück.
Mit kritisierten Entscheidungen hat das Nobelpreiskomitee immer gelebt, mit Kritiker/innen haben Nobelpreisträger/innen immer rechnen müssen, bei Handke, sagen Kenner/innen, sei das schon von vornherein festgestanden. Es sollte aber und darf nicht dazu führen, dass es zu Auseinandersetzungsformen kommt, die weder der Literatur noch der Medien würdig sind, sondern die - schlimm genug - das Hauptkennzeichen der vollkommen literaturfernen und der ebenso politisch vollkommen unkorrekten sozialen Medien-Auseinandersetzungen sind. //
Text: Gerhard Ruiss (Frankfurter Buchmesse, 18.10.2019)
Foto: Dnalor (CC BY-SA 3.0)
Gerhard Ruiss ist einer der drei Juroren der einstimmigen Zuerkennung des Großen Salzburger Kunstpreises an Peter Handke 2012 und Verfasser des Plakats "Stoppt den Krieg in Jugoslawien" 1999, ein österreichischer pazifistischer Aufruf von u.a. Milo Dor, Ioan Holender, Ferdinand Lacina, Erwin Lanc, Johanna Dohnal, Wolfgang Puschnig, Johann Kresnik, Georg Springer u.v.a., der von mehreren tausend Personen unterzeichnet wurde.