Galliano erhielt bereits im Jahr 1992 den "Prix Django Reinhard" der Academie du Jazz - somit die höchste Auszeichnung, die in Frankreich an Jazzmusiker verliehen wird. Er sei wie ein Pyromane nach Feuer, süchtig nach Musik und schönen Melodien, meinte der Akkordeonist einmal. Mit Camillo Tossoukpe sprach Richard Galliano über Freiheiten, Grenzen, Energien und Johann Sebastian Bach.
Kulturwoche.at: Wie lange begleitet Sie bereits die Musik von Johann Sebastian Bach?
Richard Galliano: Ich habe viel Musik von Bach gespielt, als ich noch jünger war, mit dem Akkordeon, weil es damit gut funktioniert. Aber damals habe ich auch viele Stücke mit der Orgel gespielt. Mit einem kleinen Komplex, wie es auch viele andere Akkordeonisten hatten, weil die Leute oft sagen, ein Akkordeon hört sich wie eine Orgel an. Was eigentlich zwar ein wunderbares Kompliment ist, aber es ist auch gefährlich, denn das Akkordeon hört sich anders an, ich würde sagen, dass es fast 'volatil' [vom lateinischen volatilis; dt.: veränderlich, beweglich, flüchtig, dampfförmig; Anm.] ist, viel leichter als die Orgel.
Wie kam die Idee zur CD zustande?
Vor vielen Jahren habe ich Bach nur aus Spaß für mich selber gespielt, auf dem Klavier oder mit dem Akkordeon. Aber als ich angefangen habe meine Platten aufzunehmen, war es eher eine spezielle Art von Jazz, der eher aus der Richtung des Tango kommt. Und als ich den Vertrag für Jazz und Klassische Musik bei Universal unterschrieb ist mir die Idee mit Bach gekommen. Ich hatte sofort Lust eine CD mit der Musik von Bach zu machen, und so habe ich die Entscheidung wie ein 'mélomane' [Musikliebhaber; Anm.] getroffen. Ich habe mir die Versionen von Anne-Sophie Mutter angehört und natürlich auch von Glenn Gould. Ich habe mir 'L'art de la fugue' angehört, und seine Version in 'La mineur' - so bekam ich Lust all das zu spielen.
Wie viele Freiheiten haben Sie sich dabei genommen?
Ich wollte, dass das Akkordeon andere Instrumente ersetzt, zum Beispiel die Flöte oder auch das Violoncello. Und so habe ich mit diesem Repertoire und dieser Entscheidung in aller Freiheit gearbeitet. Wobei ich sagen muss, dass Yann Olivier, der Boss von Universal France mir auch alle Freiheiten zugestanden hat.
Wie trafen Sie die Auswahl der Stücke? Es sind ja auch einige populäre Stücke von Bach auf dem Album zu hören.
Ich habe mir natürlich auch sehr populäre Stücke ausgesucht, denn es gibt natürlich einen Grund, warum sie bei den Menschen so beliebt sind. Einfach, weil es sehr schöne Stücke sind, wie z.B. die 'Ballinerie' oder die 'Toccata et fugue a la mineur'. Das sind Stücke, die jeder mag und die jeden ansprechen. Deshalb weiß ich nicht, warum ich sie nicht auch spielen sollte.
Hätten Sie sich auch in jungen Jahren bereits zugetraut ein solches Album aufzunehmen?
Geträumt habe ich schon in meiner frühen Kindheit davon, mit 12, 13, 14 Jahren. Ich habe früher immer daran gedacht mit dem Akkordeon Klassik zu spielen, habe aber bald erkennen müssen, dass es in der Realität fast unmöglich war. Schon für Pianisten, Geiger und Cellisten ist es schwer, aber als Akkordeonist ist es praktisch unmöglich. Und nun, als 60-jähriger, bin ich endlich am Ziel angelangt, aber im Kopf bin ich noch immer 15.
Wie nehmen Sie Ihre Entwicklung als Musiker wahr, wer oder was hat Ihnen dabei besonders geholfen?
Ich habe mich durch viele Begegnungen mit anderen Musikern stark weiterentwickelt, wie z.B. spontan mit Chet Baker zu spielen. Aber auch die Formation, mit der ich gestern [21. Februar 2011; Anm.] im Wiener Konzerthaus gespielt habe, trug dazu bei. Eine Gruppierung von Musikern, die aus dem klassischen Bereich kommen, im Gegensatz zu mir, der aus dem Bereich der populären Musik, wie Jazz und Improvisation, kommt.
Mit dieser Formation spielen Sie aber schon länger zusammen, oder?
Ja, wir trafen uns vor ca. 10 Jahren zum ersten Mal und spielten gemeinsam die Musik von Astor Piazzolla. Als ich dann die Bach-Platte machen wollte, habe ich diese Musiker wieder kontaktiert und so ist diese Begegnung weitergegangen, nur halt diesmal Richtung Klassik, obwohl sie mehr und mehr an Jazz und Pop interessiert sind.
Wie holen Sie sich eigentlich die nötige Energie, die Sie für einen Konzertauftritt benötigen?
Hier in Wien war ich z.B., kurz bevor wir anfingen zu spielen, mit dem Violinisten Jean-Marc Apap zusammen. Wir haben uns eine Aufnahme von 'Leroy Brown' angehört, und das wirkte regelrecht wie ein Energieschub.
Was bedeutet Musik für Sie, gibt es für Sie musikalische Grenzen?
Musik ist ein großer Reichtum. So etwas wie musikalischen Rassismus gibt es nicht. Es gibt keine große und keine kleine Musik. Sicher: Manchmal könnte man sich selbst vorwerfen nicht offen genug für Neues zu sein. Aber ich habe nie wirklich meine Begegnungen provoziert. Es hat immer mit einem Blick oder mit einem Lächeln angefangen, also mit etwas sehr Menschlichen. Überhaupt finde ich es sehr wichtig, keine Grenzen zwischen traditioneller und moderner Musik zu ziehen, denn Jazz und Klassik ist für mich das Gleiche. Ich hörte Glenn Gould Bach spielen und hatte dabei das Gefühl Oscar Peterson zuzuhören. Und wenn ich mir z.B. die Platte 'Count Basie at Carnegie Hall' mit Sarah Vaughan, Tony Bennett, George Benson und Joe Williams anhöre, hilft es mir wiederum Bach zu spielen. Das sind natürlich Leute aus verschiedenen Epochen, aber trotzdem hätten sie sich etwas zu sagen gehabt, sogar ohne direkt miteinander sprechen zu müssen. Und so ernähre ich mich eben - von John Coltrane und von Edith Piaf. Ich habe einmal ein Album mit Branford Marsalis gemacht und habe ihm vorgeschlagen Stücke von Piaf zu spielen. Ich habe ihm gesagt, ihr spielt meine Musik und ich spiele eure, z.B. etwas von Billie Holiday, die eigentlich niemals mit einem Akkordeonisten spielte. Mich hat diese Begegnung sehr gefreut, noch mehr, weil ich gar kein Englisch spreche, und sie wiederum kein französisch. Deshalb bin ich auch überzeugt, dass Musik viel stärker ist als jegliche Politik, denn es bringt die Menschen zusammen.
Danke für das Gespräch, Richard Galliano! //
Interview und Übersetzung: Camillo Tossoukpe; Foto: Emmanuel Ducoulombier
CD-Tipp:
Richard Galliano: Bach
Musik: @@@@@
Klang: @@@@@
Label/Vertrieb: Deutsche Grammophon/Universal (2010)