Franz Schuberts existenzieller Schmerz des Menschen in seiner "Winterreise" war für die junge Musikerin Agnés Milewski eine thematische Inspiration für ihr drittes Album "Almost Spring".
"Der Sommer hatte mit viel Regen geendet, der Herbst war viel zu kurz, und dann kam er. [...] Mein Winter dauerte fast zwei Jahre", schreibt Agnés Milewski in ihrem Blog und legt auf "Almost Spring" 12 Songs vor, die von musikalischer Leichtigkeit und lyrischem Tiefgang geprägt sind. Ein Album, das mit ihrem herausragenden Debüt-Album locker mithalten kann. Apropos: In der musikalischen Jahrzehnterückschau Es war einmal... die Gegenwart auf Schallplattenmann.de fanden in der jüngsten Folge über die Nuller-Jahre nur drei Musiker mit Österreich-Bezug Eingang. Genau genommen drei Musikerinnen, nämlich Irmie Vesselsky, Meena und Agnés Milewski. Dort hieß es: "Die drei klingen keineswegs nach Alpenprovinz, sondern nach der großen, weiten Welt. Und: Zumindest in Österreich wäre eine derart prinzipielle internationale Konkurrenzfähigkeit vor einem Jahrzehnt (von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen) nicht denkbar gewesen. Blöd nur, dass so etwas kaum jemand mehr mitbekommt, weil sich die Musikindustrie auf alles Mögliche konzentriert, nur leider nicht mehr darauf Künstler aufzubauen." Ein Kollege von Schallplattenmann.de hatte ähnliche Gedanken an die Major-Labels gerichtet, als er über Milewskis Debüt-Album Pretty Boys and Ugly Girls schrieb: "Dumme Plattenfirmen, die sich das durch die Lappen gehen lassen. [...] Toll, wie sie es hinkriegt, die bitterbösesten Texte mit unschuldigster Stimme zu Klavier und Streichern zu singen, ohne dabei unglaubwürdig oder zickig zu wirken. Das kriegen Tori Amos und Alanis Morissette schon lange nicht mehr so hin."
Oh, the media ship is sailing down the drain
Die Musikindustrie bekommt auf "Almost Spring" auch ihr (verdientes) Fett ab, und zwar in "Ship is Sailing", einem der markantesten und auffälligsten Lieder am Album. Im Walzertakt wütet sich die Sängerin und Pianistin durch einen substanziell wertvollen Text, der so manches aus dem Medienwahnsinnsalltag auf den Punkt bringt, z.B. wenn Milewski singt: "[...] the national broadcast's failing / with their brainwashing campaign / bout these old farts and their dancing stars / drinking their champagne." - Und ab geht es vom Stinkehafen hinab in die Kanalisation und eure Ignoranz könnt ihr gleich mitnehmen, denn "I'm not half as small to be ignore / the way you ignore me." Protestsong? Protestsong. Generell ist das Album wie zu Vinyl-Zeiten aufgebaut und hat zwei konträre Seiten. Die ersten sechs Lieder (darunter "Ship is Sailing") richten sich gegen etwas, zumeist gegen eine Person, und spüren offenbar die zwei grausamen Winterjahre nach. Und so endet auch "Signs and Messages", das sechste Lied am Album, mit der düsteren Textzeile "And I run, run / to the end of the road / Just to see everything go down / Everything will go down." Die zweiten sechs Lieder hingegen verströmen nach und nach so etwas wie Hoffnung, Frühlingsgefühle eben. Lied Nr. 7, "Real", beginnt schon mal ganz und gar nicht mehr isoliert, sondern mit einer fast schon hoffnungsvoll ungläubigen Frage: "[...] I woke up beside you / Was it me this time to save someone?"
I read the signs written on the wall
Das Album beginnt mit einer Anlehnung an den Work-Song "Michael, Row the Boat Ashore" aus der 1867 von William Francis Allen, Charles Pickard Ware und Lucy McKim Garrison herausgegebenen Sammlung "Slave Songs of the United States". Im Lied antwortet der Chor der arbeitenden Sklaven mit einem stereotypen "Hallelujah!" auf die teils überlieferten, teils improvisierten Gesangszeilen eines Vorsängers. In die Popularkultur eingegangen ist dieses traditionelle Gospel durch den Sänger und Weggefährten Martin Luther King's, Harry Belafonte, der es 1960 auf seinem Album "My Lord What A Morning" sang. Eine bekannte Version gibt es auch von Pete Seeger, auf dessen Interpretation im Laufe der Jahre Folk-Formationen wie Peter, Paul and Mary zurückgriffen. Agnés Milewski erweitert das Traditional, macht daraus ihren eigenen Song und vermengt bestehende mit neuen Textzeilen. Das Hallelujah versinkt in Zornestrauer. Das exquisite zweite Lied, "Mr. Misleading", eröffnet mit einer unglaublich bedrohlichen Textzeile. Den Refrain wiederum könnte auch eine Kate Bush nicht besser hinbekommen. "I have read the signs written on the wall / and I find them hard to follow", singt Milewski später in "Nothing Really Matters", einem absoluten Top-Song des Albums. Die Sängerin zieht darin ein bestürzendes Resümee, wenn sie singt: "I'm only your best friend / when I'm happy and content / But when dark clouds cover up my sky / you turn your back on me and say good-bye". Verziert werden diese Erkenntnisse mit einer feinsinnigen Melodie im Folk-Arrangement. Neben der von Milewski gespielten Nylon String Guitar steht vor allem das wunderbare Flötenspiel von Walter Till im Vordergrund. Lied Nr. 5, "Drive You Home", ist die erste Single-Auskopplung des Albums. Die Erzählerin ist hier "on a strange trip far away from home". Der Regen schlägt ihr ins Gesicht, ein Gefühl von Hilflosigkeit macht sich breit und die Band schiebt an, rüttelt wach. Die dunklen Gedanken weichen schließlich doch noch den guten, und irgendwann ist es sogar so weit, die Tränen zu trocknen, den Frühling einziehen zu lassen. "It's time to dry our tears each on our own", singt Agnés Milewski im abschließenden Titelsong von berührender Qualität. Eine Qualität, die sich durchs ganze Album zieht, und man kann sich nur wiederholen: Das kriegen Tori Amos und Alanis Morissette schon lange nicht mehr so hin. (Text: Manfred Horak; Fotos: Christoph M. Bieber)
CD-Tipp:
Agnès Milewski: Almost Spring
Musik: @@@@@
Klang: @@@@
Label/Vertrieb: mokshamusic / Between Music / Hoanzl (2013)