Erneut wird die Schatztruhe aus den geheimnisumwitterten Bob Dylan Archiven geöffnet, um im Rahmen der Bootleg Series ein weiteres Selbstportrait von Bob Dylan zugänglich zu machen. "Another Self Portrait" mit Aufnahmen der Jahre 1969 bis 1971 bringt dabei erstaunliches zum Vorschein.
All die müden Pferde in der Sonne, wie soll ich da zum Reiten kommen? "All the tired horses", diese Hymne über mangelnde Energie, steht am Anfang des Doppel-Albums "Self Portrait", das im Juni 1970 veröffentlicht wurde. Ein Album, das von Musikkritikern stets geringschätzig abgehandelt wurde, so meinte z.B. der Rockjournalist Paul Williams zu "Self Portrait" einmal: "Präsidenten stehen manchmal nackt da, und auch ein Bob Dylan hat gelegentlich nichts zu bieten." Ein paar Zeilen weiter warf er eine interessante Frage auf, die heute beantwortet werden kann. Williams schrieb: "Ich weiß - es ist möglich, dass Dylan wie Picasso vielleicht irgendwo eine Schatztruhe voller nie gesehener, nie gehörter Meisterwerke hat, die er für sich behalten wollte; wenn das der Fall ist, wird über diese Periode [Nashville Skyline; Self Portrait; New Morning; Anm.] in Dylans Karriere eines Tages womöglich eine ganz andere Geschichte geschrieben werden." Paul Williams sollte Recht behalten, denn mit "Another Self Portrait (1969-1971). The Bootleg Series Vol. 10" werden nun 35 Songs präsentiert, die aus eben jener Schatztruhe stammen: 13 Unreleased Tracks, 2 Demos, 9 Alternate Versions, 9 With/Without Overdubs, 2 Live Tracks. Davon stammen 17 Studioaufnahmen aus den Sessions für das Album "Self Portrait", 9 entstanden im Zuge von "New Morning", 2 für "Nashville Skyline", je 1 für "The Basement Tapes" und "Greatest Hits II", fünf Songs sind keiner Session zugeordnet. Eine erweiterte Ausgabe ist ebenfalls erhältlich, hier bekommt man zusätzlich das komplette Isle Of Wight Konzert mit The Band (1969), sowie eine Remastered Version vom Original-Album "Self Portrait".
Magische Wundertüte
Die erste CD startet mit einer fulminanten Demoversion von "Went to See the Gypsy", gefolgt von einem Overdub befreiten "Little Sadie", was das Lied deutlich vitaler wirken lässt. Track 3 ist dann bereits einer der Top-Höhepunkte des Albums. "Pretty Saro", ein English Folk Song aus dem 18. Jahrhundert, unvergleichlich interpretiert von His Bobness, und bis dato im Archiv unter Verschluss gehalten. Immer wieder erstaunlich, was bei Dylan zum Vorschein kommt. "Spanish is the Loving Tongue" ist nicht ganz unbekannt, auch nicht in der vorliegenden Piano-Version, die ursprünglich 1971 als Single B-Seite von "Watching the River Flow" erschien. Eine weitere Version findet sich auf dem Album "Dylan (A Fool Such as I)" von 1973. Ein von Columbia Records veröffentlichtes, von Dylan jedoch nicht autorisiertes Album und daher bis heute als einziges Dylan-Album nicht regulär als CD erhältlich. Die darauf enthaltenen Songs wurden im Juni 1970 für "New Morning", bzw. im April 1969 für "Self Portrait" aufgenommen. Outtakes, die auch auf "Another Self Portrait" nicht zum Zug kamen. Da gibt es nämlich freilich weitaus interessanteres, z.B. "Annie's Going To Sing Her Song", einem Original von Tom Paxton, jenem US-Folksänger, der mehrere Hundert Songs schrieb. Am Bekanntesten ist vermutlich "What Did You Learn in School Today?" und wer ihn bereits live erleben durfte, kennt auch seine famosen Spottlieder auf aktuelle politische Ereignisse, die Paxton nicht veröffentlicht, da er sie als Lieder mit kurzer Haltbarkeitsdauer betrachtet. Apropos: Eine kurze Haltbarkeitsdauer kann man dem Großteil der Lieder auf "Another Self Portrait" ganz und gar nicht attestieren. Okay, "Wigwam" bleibt auch in der von Overdubs befreiten Version ein Lied, mit dem ich mich einfach nicht anfreunden kann, und auch "All the Tired Horses", "Sign on the Window" und "If Dogs Run Free" kennt man in besserer Verfassung - aber das sind nur Kleinigkeiten in einem großen Ganzen, denn die hier veröffentlichten (bislang unveröffentlichten) Cover-Versionen sind ein echter Gewinn. Egal, ob Traditionals wie "Railroad Bill", "Tattle O'Day" und "Bring me a little Water" oder "Thirsty Boots" von Eric Anderson und "These Hands" von Eddie Noack oder "Working on a Guru" aus der Feder von Bob Dylan, eingespielt mit George Harrison. Einfach unglaublich, was da zum Vorschein kommt. "Another Self Portrait" ist eine magische Wundertüte, prall gefüllt von musikalischen Kostbarkeiten und neuen Erkenntnissen.
Mehr der Erde verbunden
Erstmals regulär auf Tonträger zu hören ist somit auch das komplette Konzert von Bob Dylan and The Band vom 31. August 1969 beim Isle of Wight Festival in England. 200.000 Leute - im Publikum waren u.a. John Lennon und Yoko Ono, George Harrison, Ringo Starr - hörten insgesamt 17 Songs und hörten, wie Anthony Scaduto in einer Dylan-Biografie formulierte, "einen Dylan mit einer neuen Stimme, mehr der Erde verbunden, ihrem Versprechen der Erneuerung und der Freuden des Lebens." Dieses Konzert muss man de facto als Einzelleistung betrachten, da Dylan in diesen Jahren die Zeit mit seiner Familie verbrachte und öffentliche Auftritte rar waren. The Band schiebt bei einigen Songs ordentlich an, wie z.B. beim fulminanten "I'll Be Your Baby Tonight", dass hingegen die Version von "Like a Rolling Stone" mehr als gewöhnungsbedürftig ist, hat freilich auch damit zu tun, dass die wohl ultimative Live-Version auf der Bootleg Series, Vol. 4 zu hören ist. Anderes dafür, wie das improvisierte "Minstrel Boy", ging voll auf und auch "Highway 61 Revisited" zündet. Dylan singt hier übrigens in der Eingangszeile "God said to Abraham, give me a son" anstelle von "kill me a son". Die Vermutung liegt nahe, dass er als Jungvater (zudem war seine Frau erneut schwanger) den Originaltext nicht über die Lippen brachte. Wie auch immer. Die Klangqualität ist leider nicht so besonders und auch das Konzert mag nicht herausragend sein, aber hörenswert allemal. Wie erwähnt gibt es diesen Teil aber eh nur in der Luxusausgabe gemeinsam mit dem Original "Self Portrait" Album und dem eigentlichen Kaufgrund, den 35 Songs von "Another Self Portrait". Lieder und Liedvarianten, die es nicht zu versäumen gilt. //
Text: Manfred Horak
CD-Tipp:
Bob Dylan: Another Self Portrait (1969-1971). The Bootleg Series Vol. 10
Musik: @@@@@@
Klang: @@@ bis @@@@@@
Label/Vertrieb: Columbia Records / Sony (2013)
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