Der britischen Pop-Band Orchestral Manoeuvres in the Dark - kurz OMD - hörte man ja immer schon an, dass die deutsche Band Kraftwerk großen Einfluss auf sie ausübte. Mit ex-Kraftwerker Karl Bartos, der mit "Off the Record" sein zweites Solo-Album veröffentlicht, gab es bereits einige musikalische Kooperationen, so auch erneut auf "English Electric".
Retrofuturismus, Teil 1
Wenden wir uns zunächst dem Album "Off the Record" von Karl Bartos zu. Mit dem Song "Atomium" startet der Deutsche sehr Kraftwerk-affin, was freilich nicht allzu überraschen sollte, war er doch ab 1975 Bandmitglied und ab 1978 Co-Autor mehrerer Kraftwerk-Titel, darunter vom hypergenialen "Das Model" (wohl eines der besten Pop-Songs der Musikgeschichte). Die fantastischen Sounds jedenfalls, die Karl Bartos in "Atomium" abliefert - gepaart mit einer wendigen Pop-Melodie - sorgt für einen fast schon sensationellen Einstieg ins Album. Auch das nachfolgende Lied "Nachtfahrt" überzeugt, das Bartos mit seiner echten Stimme singt. Ausgangspunkt ist eine solide Melodie und zwei Textstrophen. Eine davon lautet: "Die Zeit wird zu Blei / und zieht sich endlos hin / endlos durch die Nacht / und total durch den Wind / Ich fahr die ganze Nacht / bis ich bei dir bin". Ein elektronischer Pop-Song, der zwar bei weitem nicht an "Das Model" herankommt, aber durchaus seine guten Momente hat. "International Velvet" und "Without a Trace of Emotion" wiederum könnten auch auf dem OMD-Album Platz gefunden haben (stattdessen ist dort das ungleich bessere "Kissing the Machine" zu hören; aber dazu weiter unten mehr). Schielen also die ersten vier Lieder auf Radiotauglichkeit, begibt sich Karl Bartos mit "The Binary Code" in die Experimentierstube, um wenig später mit "Musica ex Machina" die Dancefloor-Tauglichkeit seiner Sounds auszuloten. "The Tuning of the World" bereichert das Album formal als Computer-Ballade, was ziemlich gut kommt und ein echter, wenn auch vordergründig unspektakulärer, Highlight des Albums ist. Elektropop-Avancen wie wir es von der NDW-Band Rheingold kennen tauchen im Instrumental "Instant Bayreuth" auf, um sich danach erneut angewandter Experimente zu widmen. "Die menschliche Stimme ist das ausdrucksstärkste Musikinstrument überhaupt", heißt es in "Vox Humana", einem erstaunlich flexiblen Stück. Eine kurzweilige Spielerei, der menschlichen Stimme in all seinen Facetten und Verkünstelungsmöglichkeiten gewidmet. Mit "Rhythmus" taucht Bartos in "die Abstraktion der Welt" ein. In "die Gestaltung der Form von Licht, Bewegung, Dynamik, Gleichzeitigkeit". Hier hört man sehr gut, wie wichtig Karl Bartos für Kraftwerk war. Erstaunlich. Für den Abschluss des Albums hob sich Karl Bartos den feinsten Song auf. "Hausmusik" besitzt Pfiff und Witz und eine simple, und von daher eine umso großartigere, Melodie. Retrofuturisten werden dieses Album lieben.
Retrofuturismus, Teil 2
Wenden wir uns nun dem Album "English Electric" von OMD zu. Wir erinnern uns: Im Jahr 1978, wie erwähnt stark beeinflusst von Kraftwerk, startet das britische Duo Andy McCluskey und Paul Humphreys die Unternehmung Orchestral Manoeuvres in the Dark (kurz: OMD). Die Debüt-Single "Electricity" wurde im Mai 1979 veröffentlicht, Riesenhits wie "Enola Gay" (1980) und "Maid of Orleans" (1982) folgten und zumindest ihr drittes Album "Architecture & Morality" (1981) sollte man kennen. Die ursprünglich recht experimentellen Ansätze wichen zunehmend dem Elektropop-Erlebnis, leider bis zur völligen belanglosen Verflachung. Umso überraschender nun das vorliegende Album, das die guten Kräfte von OMD nahezu perfekt eint. Das übergroße Thema des Albums ist die Zukunft, oder, wie man im Booklet nachlesen kann: "A Future so bright that it burns my eyes / A house and a car and a robot wife". Gleich zu Beginn wird allerdings die Zukunft abgesagt und man möge doch bitte auf weitere Instruktionen warten, bevor wir im vierten Lied die Vorhersage hören, "The Future will be silent". Musikalisch setzt OMD generell auf zwei Schienen. Die gefälligere und leichter konsumierbare Schiene ist freilich die Elektropop-Ebene. "Metroland", "Helen of Troy", "Kissing the Machine" (mit dem Ko-Autor Karl Bartos) und "Final Song" (inklusive Samples von Abbey Lincolns "Lonely House") sind dabei als perfekte Pop-Songs mit Hitpotenzial hervorzuheben. Als Single ausgekoppelt wurden tatsächlich (beide ohne Chart-Platzierung) das hervorragende "Metroland" und das schwache "Dresden". Das wehmütige "Kissing the Machine" verzaubert von den genannten am meisten. Hier hört man die unwiderstehliche Kombination aus Kraftwerk-Zeiten und den besten OMD-Elementen. Eine schleichende Melodie, sparsam eingesetzte Effekte, dazu der leidenschaftliche Gesang von Andy McCluskey und die weibliche Maschinenstimme von Claudia Brücken machen das Lied zu einem Großereignis. Als Pedant dazu liefert OMD zwischendurch kurze Snippets ab, wie "Decimal" (1:15 Minuten) oder "Atomic Ranch" (1:43 Minuten) mit der Textzeile "I want a house and a car and a robot wife". Was man sich halt so wünscht in der Atomverseuchten Zukunft. Kurze Liedsprengseln, die mehr den experimentellen Gedanken entspringen und wenig Wert auf konventionelle Songstrukturen legen. Dennoch gibt es auch Schwachstellen, und das nicht zu knapp: "The Future will be silent" (da konnte sich OMD offenbar nicht entscheiden, ob die nervenden Vocoderspielereien ein Song sein sollen), "Our System" (da tragen sie dann doch ein bisschen zu dick Kitsch auf), "Stay with me" und "Dresden" (beides farbloser und geschmacksbefreiter 80s Synthie-Pop). Dem guten Gesamteindruck des Albums kann das jedoch nicht schaden. Retrofuturisten werden auch dieses Album lieben. (Manfred Horak)
CD-Tipps:
Karl Bartos: Off the Record
Musik: @@@@
Klang: @@@@@@
Label/Vertrieb: bureau b / Tapete Rec. (2013)
OMD: English Electricity
Musik: @@@@
Klang: @@@@@@
Label/Vertrieb: 100% Records/BMG (2013)