In den Kasematten Wiener Neustadt erforscht das Theaterfestival Europa in Szene bis 16.10. die Strukturen von Krieg, Demokratie, Autokratie und tradierte Bilder von Männlichkeit und Herrschertum und genau davon handelt auch das Interview mit wortwiege-Intendantin Anna Maria Krassnigg.
"Unsere Tugend hängt von den Deutungen der Zeit ab", zitiert an einer Stelle im Interview Anna Maria Krassnigg William Shakespeare, während Manfred Horak Oskar Werner zitierte, "Unser Schicksal ist unser Charakter", beides im Zusammenhang der Frage, wie sie zur Trennung von Werk und Persönlichkeit steht. Ihre wortwiege geht einmal jährlich in den Kasematten Wr. Neustadt über die Bühne, 2022 unter dem Titel "Europa in Szene" mit u.a. Shakespeare und Strindberg, und mit einem Redeformat von bedeutenden historischen und zeitgenössischen Reden über Krieg, über Verantwortung, über Korruption, über Europa, über Frieden.
Interview mit Anna Maria Krassnigg
Ein Theaterfestival also, das sich generell den Fragen nach Strukturen von Krieg, Demokratie, Autokratie und tradierte Bilder von Männlichkeit und Herrschertum annimmt. Reden, die Geschichte machen oder die Öffentlichkeit bewegen, sind fast immer großes Theater. Kaum jemand kennt aber die ganzen Reden, sondern nur einige Kernsätze. Im Programmpunkt "Reden!" schließt Anna Maria Krassnigg eine bizarre Informationslücke und untersucht einen vernachlässigten theatralischen Aspekt der Öffentlichkeit gleichsam von Innen. So gesehen ist die Theatercompany wortwiege ein zutiefst politisches Theater als Aufforderung zum Weiterdenken. Im Gespräch wurde der Bogen nach ihrem 18-jährigen Ich gespannt, ob sie glücklich zwischen den Stühlen ist bis hin zur gesellschaftlichen Veränderung der Sprachsensibilisierung, und, das Gespräch dauerte ja fast eine Stunde, noch über vieles mehr, z.B., gleich eingangs, über die Spielplanidee, und wie diese mit der Stadt- und Wehrgeschichte von Wr. Neustadt in Einklang gebracht werden kann.
Ein Theaterfestival als Denkraum
Von Jesus von Nazareth bis Wolodymyr Selenskyj, von Cicero bis Bertha von Suttner, von Winston Churchill bis Al Gore hinterfragt „Europa in Szene - das Theaterfestival der wortwiege in den Kasematten Wiener Neustadt“ bedeutende historische und zeitgenössische Reden über Krieg, über Verantwortung, über Korruption, über Europa, über Frieden. Eine Performance von Schauspieler:innen, bevor die künstlerische Leiterin Anna Maria Krassnigg mit ihren Gesprächsgästen die rhetorischen Werke und ihre aktuelle Relevanz unter die Lupe nimmt. Als große Klammer des Festivals dienen zwei Theaterstücke - „Coriolanus“ von William Shakespeare und „Totentanz“ von August Strindberg. In der Gesprächsreihe „Salon Europa“ wiederum diskutieren Anna Maria Krassnigg und Kulturwissenschaftler Wolfgang Müller-Funk in fünf Matinéen mit hochkarätigen Gästen über die Stücke und ihre Bezüge zum Hier und Jetzt.
Philosophische Unparteilichkeit
In der Tragödie „Coriolanus“ wird unter der Regie von Azelia Opak die Geburtsstunde des Populismus gezeigt. Shakespeare erzählt von der persönlichen Tragik des Caius Marcius Coriolanus, indem er einerseits dessen Beziehungen zu seinem Gegenspieler Aufidius und zu seiner Mutter intensivierte und andrerseits dessen innere Konflikte mit den Problemen einer in sich gespaltenen Gesellschaft verknüpfte. Bereits die erste Szene entfaltet drei zentrale Konfliktsituationen - den Krieg zwischen der jungen römischen Republik und den benachbarten Volskern (ein italischer Volksstamm), die persönliche Rivalität zwischen Coriolan und Aufidius, und schließlich den Machtkampf innerhalb der römischen Republik zwischen den aristokratischen Patriziern und den Plebejern, die von den opportunistischen und machtgierigen Volkstribunen geführt und manipuliert werden. Shakespeare ging es um philosophische Unparteilichkeit, um die dramatisch-objektive Darstellung des Konflikts zwischen einem außerordentlichen Individuum, dessen Charaktermängel keineswegs beschönigt werden und dem wankelmütigen, feigen Volk und dessen Revolte als Notwehrreaktion.
Aufforderung zum Weiterdenken
Mit dem 1900 entstandenen „Totentanz“ von August Strindberg zeigt das Theaterfestival außerdem ein Stück, das erst in der Inszenierung von Max Reinhardt als „entscheidendes Ereignis“ gefeiert wurde. In Wr. Neustadt führt Uwe Reichwaldt Regie, der am Max Reinhardt Seminar studierte. Mit „Totentanz“ knüpfte Strindberg thematisch und formal an seine sogenannten naturalistischen Dramen an. Im Mittelpunkt steht die konfliktgeladene eheliche Beziehung zwischen Edgar und Alice, die seit vielen Jahren auf einer Insel in einem runden Turm leben, der ursprünglich als Gefängnis gedient hat. Mit allen Bewohnern der Insel entzweit, tragen Edgar und Alice in ihrem Turm einen permanenten und erbarmungslosen Ehekrieg aus. Ihr tägliches Zusammenleben ist von schwelender Feindseligkeit und Aggressivität bestimmt und beiden ist der geringste Anlass willkommen, den jeweils anderen mit verbalen Bosheiten zu peinigen. Psychologisch gesehen gehört dieses motivlose Hassen zu den absurden Zügen in Strindbergs Stück. Ihm gelang hier eine Modernität, die wie eine Vorwegnahme späterer Entwicklungen wirkt. Gewissermaßen eingebettet zwischen Shakespeare und Strindberg ist jenes Schauspielformat, das, wie eingangs erwähnt, historische und zeitgenössische rhetorische Paradestücke in Erinnerung ruft. „Reden, die Geschichte machen oder die Öffentlichkeit bewegen, sind fast immer großes Theater“, so Anna Maria Krassnigg. Kaum jemand kennt aber die ganzen Reden, sondern nur einige Kernsätze. Krassnigg: „So gesehen schließt das Format „Reden!“ eine bizarre Informationslücke und untersucht einen vernachlässigten theatralischen Aspekt der Öffentlichkeit gleichsam von Innen. Politisches Theater als Aufforderung zum Weiterdenken.“ //
Interview, Text und Podcast-Produktion: Manfred Horak
Fotos: wortwiege
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