Mittelerde - Der Schlüssel zu fremden Welten

Woraus besteht der Schlüssel zum Eintauchen in fremde Universen? Der Content Creator Marco Risch und die Psychologin Maria Dopfer klären auf, was es für das Öffnen der Pforte nach Narnia & Co. benötigt.

"Auf, auf ihr Reiter Theodens! Speer wird zerschellen, Schild zersplittern, ein Schwerttag, ein Bluttag, ehe die Sonne steigt. Reitet, reitet nun, reitet zur Vernichtung und zum Ende der Welt. TOD!“ Der Puls steigt und eine Gänsehaut überzieht den Körper. Am liebsten würde man sich als Zuschauer und Zuschauerinnen langsam vom Sitz erheben, selbst auf ein Pferd steigen und mit dem König Rohans in die Schlacht um Mittelerde ziehen. Es ist ein Sog, eine Aufforderung und eine Flut an Emotionen, die das Publikum im Kino oder vor dem Fernseher mitreißt. Mittelerde, Westeros und eine weit entfernte Galaxis sind fiktive Welten, die vielen von uns so geläufig sind wie die eigene Nachbarschaft. Kurz gesagt: Filme und Serien öffnen uns Türen, um in fremde Welten zu entschwinden.

Die Magie guter Geschichten

"Es ist nur catchy, wenn es gut ist.“ So fasst Marco Risch vom YouTube-Kanal Nerdkultur und dem Podcast Nerd & Kultur die Essenz einer eskapistischen Welt zusammen. Was meint er damit? Geschichten. Insbesondere Geschichten, die so gut sind, dass sie den Zahn der Zeit überstehen und die Menschheit bereits seit Jahrtausenden fesseln. Sie haben die Fähigkeit, eine Faszination für fiktive Welten zu entfachen. Dabei kommt es laut Risch nicht primär auf die Originalität, sondern auf die richtige Umsetzung der bereits etablierten Erzählmechanismen an. "Selbst das Harry Potter-Universum, das zu den größten Welten gehört, die man sich vorstellen kann, ist im Wesentlichen von J. K. Rowling zusammengeklaut worden. Es gibt sogar Abgleiche, dass das Storytelling ähnlich ist wie bei Star Wars. Das hat aber nicht nur damit zu tun, dass die Autorin oder der Autor geklaut haben, sondern weil sich bestimmte Erzählmechanismen etabliert haben.“ Damit gemeint ist beispielsweise die allseits bekannte Heldenreise, die einem festgelegten Pfad folgt und damit einen dramaturgischen Faden vorgibt. Bekannte Größen wie George Lucas (Star Wars), Steven Spielberg (Jurassic Park) und J.K. Rowling berufen sich dabei stark auf "Der Heros in tausend Gestalten“ (1949) von Joseph Campbell, der im Rahmen seines Buches die grundlegende Theorie der Heldenreise ausformuliert. Sie liefert nicht nur Zutaten für eine gute Geschichte, sondern kann auch die "Flucht aus dem Alltag erleichtern und helfen, den Stress hinter sich zu lassen“, meint die Psychologin Maria Dopfer. "Gerade bei Stories wie James Bond kann es hilfreich sein zu wissen, wie es abläuft. James Bond wird die Welt retten. Sherlock Holmes wird den Fall aufklären. Ich finde es fast beruhigend, so einen Rahmen zu haben und zu wissen: So wird es laufen.“ 

Die richtigen Beats

Hinzu kommt, dass sich Fiktion sehr oft von Geschichten des realen Lebens inspirieren lässt. Wie heißt es so schön: Die besten Geschichten schreibt das Leben. Marco Risch hebt hervor, dass "selbst Der Herr der Ringe nicht aus dem Nichts kam, sondern J. R. R. Tolkien sich mit alten germanischen und nordischen Sagen beschäftigt hat. Er hat viele Elemente daraus eingebaut. Es sind Geschichten, die so gut sind, dass sie natürlich mündlich lange überliefert wurden“. Genau dessen sind sich auch die Schöpfer und Schöpferinnen von Star Wars, Game of Thrones oder Harry Potter bewusst. Die Orientierung an realen Erzählungen und echten Erlebnissen lässt fiktive Welten lebendig und nahbar wirken. Beim Eintauchen in fremde Welten kann die Realität mit der Fiktion sogar ein wenig verschwimmen. Der YouTuber und Podcaster, der vor allem für seine detailreichen essayistischen Videos bekannt ist, kennt diesen Sog: "Ich merke das beim Schreiben meiner Videos. Ich komme da in einen Modus rein, als würde ich über echte Geschichte berichten.“ Gute Geschichten und das Storytelling sind eben das, was uns Menschen von anderen Lebewesen unterscheidet. Wenn diese dann auch noch gut, spannend und, wie Marco sagt, die "richtigen Beats“ haben, dann wirkt die Magie.

Die inkonsistente Kritik an der Konsistenz

Gute Geschichten ziehen uns in eine Welt hinein und wecken sofort Faszination und Neugierde. Doch was macht diese Welt dann aus? Beim Stöbern durch das Internet und beim Durchlesen so mancher Blogs wird schnell klar, worum es den meisten geht: Eine in sich geschlossene Konsistenz und klare Regeln. Doch sind das wirklich die Grundpfeiler eines funktionierenden fiktiven Zufluchtsortes? Der Gedanke ergibt Sinn: Unser alltägliches Leben ist durchzogen von Struktur, Konsequenzen und Regeln, seien es Gesetze, eigene Abläufe oder Routinen. Das reale Leben folgt schlichtweg einer Logik. Jedoch sollte bei der Gewichtung von Konsistenz und weltinternen Regeln eines beachtet werden: die Magie der Fantasie. Wenn uns beim Lesen die Vorstellungskraft in eine Welt entführt, die Kamerafahrt im Film förmlich in sein Universum zieht und die Filmmusik Emotionen suggeriert, fallen Logik und Regeln schnell einmal über Bord. Marco Risch spricht gar von einer "Überbewertung“ dieser Aspekte: "Inkonsistenzen oder Plot-Holes werden oft als Grund genommen, dass man etwas nicht gut findet. Man ignoriert es aber bei den Einträgen, die man mag. Gerade als Star Wars-Fan sehe ich das immer wieder, dass bei den Serien, die nicht so beliebt sind, 'cherry picking‘-mäßig das rausgesucht wird, was die Leute an Inkonsistenz feststellen. Ich finde aber, dass es in jedem Star Wars-Produkt seit 1977 Inkonsistenzen gibt.“ Hinzu kommt, dass vielen ZuschauerInnen und auch LeserInnen Inkonsequenzen und die sogenannten "Plot-Holes“ gar nicht auffallen. Wir sind als Menschen oftmals derart in der Fiktion und Immersion gefangen, dass wir über kleine Ungereimtheiten hinwegsehen. Immens wichtig ist die Plausibilität in der fiktiven Welt. "Wir tasten die fiktiven Welten ja nicht wirklich auf Realitätsbezüge ab. Wenn wir das wirklich tun würden, müsste man sich bei Star Wars etwa darüber aufregen, dass man die Geräusche im Weltraum hört“, so Risch. Man stelle sich die völlig stille Verfolgung zweier Raumschiffe vor.

Anschalten zum Abschalten

Langer Tag, stressiger Job, viel zu tun: Wir legen uns vor den Bildschirm und geben uns der Fiktion hin. Die Psychologin Maria Dopfer beschreibt dieses Phänomen bildlich als ein "in den Hintergrund rückendes Gedankenkarussell“. Das bedeutet jedoch nicht, dass sich alle Menschen eine ruhige, anspruchslose Serie anschauen und vor dem Fernseher einschlafen. "Realistisch wäre es eigentlich, etwas Ruhiges anzuschauen“, meint die Psychologin. Menschen wie Marco Risch oder viele andere bevorzugen jedoch oft komplexe Serien wie Game of Thrones, Filme wie Star Wars oder Alien. Das kann Action, Kämpfe, Horror und ein Steigen des Adrenalinspiegels bedeuten. "Menschen neigen zum 'Sensation Seeking‘ (Das Verlangen nach aufregenden Erlebnissen, die starke emotionale Reize wie Spannung oder Nervenkitzel bieten) oder der 'Neugierlust‘“, kommentiert die Psychologin die scheinbar konträren Sehgewohnheiten. Denn "manchmal ist auch das möglichst Spannendste das Einzige, was das Gedankenkarussell zum Erliegen bringen kann.

Die Pforte öffnet sich

Die gute und plausible Geschichte, mit der das Gedankenkarussell gestoppt wird und in der wir Zuflucht vor der stressigen Realität finden: bis dato ist diese Strategie das Rezept, um uns in eine fiktive Welt eintauchen zu lassen. Die Psychologin nennt noch eine weitere Erfolgszutat: die menschliche Emotion. "Wenn du auf der emotionalen Ebene jemanden 'catchst‘, dann ist das Eintauchen in derartige Welten viel einfacher, als wenn die Emotionen nicht getroffen werden. Das kann durch Angst, Freude, Sentimentalität, Mitfiebern oder Sympathien geschehen“, betont Dopfer. In der Welt des Films wird oft gesagt: Das Publikum ist "invested“ in eine Story oder nicht. Genau das ist die Essenz ihrer Aussage. Gute Storylines und spannende Geschichten bringen beim Entschwinden in fremde Welten nichts, wenn uns die Figuren und Charaktere egal sind. Wenn wir nicht emotional abgeholt oder keine Gefühlsregungen erweckt werden, bleibt die Pforte zur Immersion geschlossen. Hier stehen wir nun: Am Beginn der Schlacht um Mittelerde. Unsere liebgewonnenen Figuren zwischen Leben und Tod. Die Gänsehaut am Anschlag, das Adrenalin zur Ausschüttung bereit, die Gedanken verstummen. Völlige Immersion. Der Schlüssel passt. // 

Text: Tobias Schwaiger
Foto: pixabay, marcoianna3

Gefällt Ihnen der Artikel? Jeder Beitrag zählt!
paypal.me/gylaax
Kulturwoche.at ist ein unabhängiges Online-Magazin, das ohne Förderung von Bund/Stadt/Land bzw. Großsponsoring auskommt.
Schlüssel zu fremden Welten PayPal QR Gylaax

 Schlüssel zu fremden Welten Gylaax Banner