Im Dezember 1915 wurde Édith Giovanna Gassion in Paris geboren, die später als die Piaf für Furore sorgte. Die deutsche Sängerin Evi Niessner setzt dem Spatz von Paris mit ihrem Programm "Chanson Divine" ein Denkmal zum 100. Geburtstag. Manfred Horak fragte bei Evi Niessner nach, was sich das Publikum von der Show erwarten darf.
Kulturwoche.at: Wie sind Sie auf den Geschmack gekommen, Lieder zu singen, die man mit Edith Piaf verbindet?
Evi Niessner: Wenn ein Lied von Piaf im Radio kam, habe ich schon als junges Mädchen lauter gedreht. Der Strahl dieser Stimme hat mich fasziniert. Als ich dann später meine Ausbildung als Opernsängerin gemacht habe, hätte ich aber nie gedacht, dass Piaf mal zu meinem Repertoire gehören würde. Beim Bundesgesangswettbewerb habe ich dann das französische Chanson "Youkali" von Kurt Weill gesungen, das die Jury inspiriert hat mich zum Vorsingen für PIAF an das Landestheater Altenburg zu schicken. Und so ist das dann gekommen, dass ich in sechs Wochen 14 französische Chansons und eine dreistündige Rolle auswendig lernen musste. Danach gab es dann kein Zurück mehr. Für mich war es als gelernter hoher Sopran eine Herausforderung und Offenbarung zugleich, die Piaf Stücke authentisch und doch auf meine Art zu singen und sich dabei eben nicht wie ein Opern-trainierter hoher Sopran anzuhören. Das Stück "Youkali", das mich erst zu all dem gebracht hat, habe ich aber auch heute noch in diesem Programm.
In Österreich sind wir Dank Maria Bill recht vertraut mit der Piaf-Biografie und den Liedern, die sie sang. Haben Sie Bill einmal live gesehen oder kennen Sie eine ihrer „Bill singt Piaf“-Alben und falls ja, war das ein Orientierungspunkt für Sie oder sind die Originalaufnahmen von Piaf und ihre Autobiografie bzw. eine der Filmbiografien der Ausgangspunkt zu Ihrem Programm?
Ich habe Maria Bill vor vielen Jahren im Schlossparktheater in Berlin erlebt, und war sehr beeindruckt, wie kraftvoll und facettenreich sie die Rolle angelegt hat. Sie war von den vielen Piaf- Darstellerinnen die herausragendste. Mein Ansatz bzw. mein Streben als Sängerin liegt aber naturgemäß woanders. Was uns eint ist sicher der Anspruch, die emotionale Tiefe des Themas auszuloten, wobei es Maria Bill als Schauspielerin sicher mehr um das unfassbare Spektrum der Person und Figur Piaf geht, und bei mir mehr um die Musik, die auch losgelöst von der Person der Piaf für mich einen absoluten Wert hat. Bei mir ist der rote Faden des Abends die Musik, wobei ich Biographisches eher in Form einer Collage eingebracht habe, und mich dabei nicht strikt an eine chronologische Abfolge halte.
Sie sind klassisch ausgebildete Opernsängerin. Edith Piaf, im Gegensatz zu Ihnen, war geschulte Straßensängerin. Wie leicht oder schwer ist es von daher für Sie Piaf zu singen?
Gottseidank habe ich mich als Gesangs-Schülerin schon früh von der "deutschen Technik" entfernt und hatte eine grandiose amerikanische Gesangslehrerin, Prof. Janice Harper, die mir den Weg zu den nahezu unendlichen Möglichkeiten meiner Stimme gezeigt hat. Mir ging es nie darum das spezifische Klangideal einer Opernstimme zu erfüllen, welches auch Mode-Trends unterworfen ist. Eine Stimme ist immer nur so gut, wie sie Musik macht, da gibt es noch weitaus mehr als den "Sound". Es geht immer um das Öffnen von Emotionen, um Lebendigkeit. Das ist zeitlos und sehr individuell, egal ob Straße oder Oper. Eine Opernausbildung heißt auch nicht, ein weltfremdes, verwöhntes Kind reicher Eltern zu sein. Gottlob habe ich zwar die Dramen einer Piaf in dieser Härte nicht erlebt, aber eine gewisse "Schule des Lebens" habe ich auch absolviert. Schwer oder leicht ist dabei nicht die Frage. Entweder man kann schwimmen oder nicht. So ist das für mich auch mit dem Singen. Wenn man es kann, ist es ganz leicht. Man kann gar nicht anders.
Piaf nahm über 200 Lieder auf Schallplatte auf, wie viele davon werden in Ihrem Programm zu hören sein und welche Lieder von ihr mögen Sie besonders?
Wir haben rund 20 Chansons im Programm; die meisten von Edith Piaf. Es gibt aber auch Chansons, die nicht aus dem Piaf Repertoire stammen, für mich aber in einem Kontext stehen. Ich möchte ja nicht nur eine Art Piaf Revival Konzert machen, sondern möchte das Publikum auch die bewegende Atmosphäre diese Zeit spüren lassen. Das waren die 1930er Jahre in Paris als noch Java in den Spelunken getanzt wurde, aber auch der große Durchbruch in Amerika, als sie endlich auch auf Englisch sang, und "La Piaf " nach anfänglichen Flops von den Amerikanern schließlich doch auf Händen getragen wurde. So habe ich "Parlez moi d'amour" im Programm, dass die Kindheit der Piaf begleitet haben dürfte, Cole Porters "I love paris", das als Jazz Standard bekannt ist, und eben besagtes "Youkali", das musikalisch und auch textlich einen starken Kontrast zu den Liedern der Piaf bildet. Inwiefern, darüber würde ich gerne mal das Publikum debattieren lassen. Mein persönliches Lieblingslied der Piaf ist das eher unbekannte "J'ai danse avec l'amour" ["Ich habe mit der Liebe getanzt"; Anm.]. Es ist ein Blues auf Französisch. Da mischt sich meine Liebe zum Blues und zur amerikanischen Musik der 1940er Jahre mit dem Stil der Musik der Piaf. Wer "La vie en rose", "Milord", "Padam padam" und "Non, je ne regrette rien" erwartet, kommt natürlich auch auf seine Kosten. Dies alles waren Kompositionen, die zu der ganzen großen Musik des 20. Jahrhunderts zählen. Es ist mir sozusagen ein Auftrag, diese Lieder wieder erklingen zu lassen. Gerade junge Menschen im Publikum sind erstaunt und begeistert, was diese Musik in ihnen aufwühlt, selbst wenn man nicht genau den Text versteht.
Gibt es auch Piaf-Lieder, die Sie überhaupt nicht mögen und nicht singen würden?
Lieder von der Piaf, die ich wirklich nicht mag, gibt es nicht. Aber wenn man ein Programm zusammen stellt, entscheidet man nicht nur danach, was einem persönlich am besten gefällt. Die Auswahl muss einen überzeugenden dramaturgischen Bogen ergeben, ein Bild malen, in dem die beiden Künstlerinnen Edith Piaf und Evi Niessner verschmelzen und doch jede für sich transparent erkennbar und spürbar wird.
Wann wussten Sie, dass Sie Sängerin werden wollen? Gab es da einen speziellen Moment, eine Art Initialzündung?
Eigentlich stand nie etwas anderes zur Debatte. Ich war schon immer Sängerin. Es gibt dazu aber eine liebreizende Geschichte: Ich war drei Jahre alt, und mein Opa stand mit mir auf seinen Schultern an der Kasse unseres kleinen Lädchens im Dorf. Und während er seine Einkäufe einpackte und zahlte, habe ich, ganz in mich versunken, ein Vogel-Mobile betrachtet, das über der Kasse hing und "Alle Vögel sind schon da" gesungen. Da hat die Frau Kassiererin geweint vor Rührung. Ich glaube ein Bonbon habe ich auch bekommen.
Sie sind seit 1990 als Sängerin tätig. Seither ist viel passiert, und es gab nicht zuletzt im künstlerischen Bereich dramatische Veränderungen, in den meisten Fällen zu Lasten von Kulturschaffenden. Wie haben Sie diese 25 Jahre als Profi erlebt?
Es ist und bleibt eine Herausforderung, die ich solange annehmen werde, bis ich umfalle. Das Gejammer, wie schwer das alles ist, wie viel mehr die (freie) Kunst auch öffentlich unterstützt werden müsste, bringt uns doch nicht weiter. Wenn ich Sicherheit als Priorität in meinem Leben hätte haben wollen, hätte ich einen anderen Beruf ergreifen müssen. Ich bin aber stolz und froh, dass ich alles auf eine Karte gesetzt habe, für mich selbst verantwortlich bin, aber frei in meinen künstlerischen und privaten Entscheidungen, ohne jemanden etwas schuldig, oder von jemandem abhängig zu sein. Die Zeit und Energie, die Viele mit Jammern über die zugegebenermaßen verbesserunsgwürdigen Zustände aufwenden, möchte ich lieber nutzen und Musik machen. Die Erfolge, die ich in den nunmehr tatsächlich schon 25 Jahren auf der Bühne habe, haben jedenfalls immer gereicht, um sagen zu können, ich kann davon recht gut leben. Außerdem bemerke ich, dass es in jüngster Zeit wieder einen Wandel gibt beim Publikum, das gemerkt hat, dass das Live-Erlebnis eben durch nichts zu ersetzen ist. Die emotionale Abstumpfung, der Einheitsbrei im Fernsehen, das blanke Berühmtsein mancher "Promis", die einfach nur bekannt sind, aber leider oft Talent-frei... Die Menschen haben den Fake so langsam entlarvt und merken, dass es Spannenderes gibt, und wollen das auch live erleben. Das ist doch sehr erfreulich!
Was assoziieren Sie mit den Begriffen Lampenfieber, Sentimentalität, Angst, Selbstbewusstsein, Unterhaltung, Web 2.0, Politik?
Lampenfieber: ... im positiven Sinne der magische Adrenalin-Kick, der einen in diesen Zustand versetzt ohne Rücksicht auf Verluste 2 Stunden lang konzentriert Höchstleistung zu erbringen.
Sentimentalität: Es ist der innere Zustand des resignierten in sich hinein Jammerns, dass doch früher alles besser war. Die Vergangenheit als Teil der Gegenwart zu betrachten, die uns helfen kann vieles zu verstehen, zu sehen, besser zu machen - wenn wir das wollen! - das finde ich wichtig. Das Verliebtsein in eine bestimmte Ästhetik vergangener Epochen, und dem was an Lebensgefühl dahinter steht kann ich aber nicht leugnen. Und gerade deswegen versuche ich die Vergangenheit immer mit der Gegenwart zu verbinden.
Angst: Wir alle haben vor irgendetwas Angst. Man muss die Angst immer in ihre Grenzen verweisen, damit sie nicht unser Leben bestimmt.
Selbstbewusstsein: Eine Sache, die man lernen kann, zu jeder Zeit des Lebens. Jeder Mensch sollte sich seiner selbst bewusst sein, und sich als Mensch gerne annehmen. Unbedingt nicht zu verwechseln mit Selbstverliebtheit, Selbstüberschätzung oder Egoismus.
Unterhaltung: Eine große Kunst, die ich in allen meinen Programmen zu erfüllen versuche. Sie ist eine Kombination aus Handwerkskunst, einem sich selbst nicht allzu ernst nehmen, und einer echten Leidenschaft für das was man tut. Gute Unterhaltung hat Seltenheitswert und wird in ihrem Wert oft unterschätzt, weil sie so leichtfüßig daher kommt und daher leider leicht mit billigem Kommerz-Schund verwechselt wird. Was nun was ist, das ist die Aufgabe des Publikums das für sich heraus zu finden.
Web 2.0 --- Entschuldigung, Bildungslücke.
Politik: Es gibt keine Lager mehr, denen man sich ideologisch einfach zuordnen kann. Es ist alles irgendwie auf den Kopf gestellt und einmal kräftig durchgeschüttelt. Ich informiere mich politisch am liebsten über Satiresendungen wie "Die Anstalt", weil da das Welt-Geschehen schon in einen reflektierten Konsens gestellt wird. Diesen Leuten traue ich jedenfalls mehr als den Marketingstrategien der Politik und den oft nicht gründlich hinterfragten Meldungen der "normalen" Berichterstattung. Die Informationen, die man oft bräuchte um über gewisse Dinge zu urteilen, fehlen. Daher bin ich sehr zurückhaltend mit politischen Urteilen. Generell bin ich gegen jeden Form von Extremismus, Gewalt, Rassismus, Machtsucht, und Intoleranz gegenüber allen "nonkonform" lebenden Menschen. Aber, alle Menschen - zumindest die, die ich kenne - behaupten das Gleiche auch von sich. Darüber bin ich froh.
Wenn ich richtig informiert bin, leben Sie in Berlin. Würden Sie das Großstadtleben gegen das Landleben eintauschen, wenn sich die Gelegenheit bietet, oder sind Sie nicht nur eine klassisch ausgebildete Opernsängerin, sondern auch ein klassisches Großstadtkind?
Ich gestehe, dass ich nach 17 Jahren Berlin/Prenzlauer Berg wieder in meine alte Heimat Richtung Wiesbaden gezogen bin. Tatsächlich bin ich auf dem Lande am Waldrand groß geworden war immer von vielen Tieren und meiner Familie umgeben, wollte aber dann doch irgendwann lieber Städterin, Kosmopolitin sein, von aufregenden Geräuschen geweckt werden und nicht von Vogelgezwitscher. Ein halbes Leben später ändert sich so etwas wieder. Jetzt schöpfe ich viel Kraft aus den Spaziergängen mit meinem Dackel durch die Weinberge und am Rhein entlang. Nicht zuletzt ist unser Tournee-Leben überhaupt wieder organisierbar, weil es Großeltern in der Nähe gibt, die unseren Sohn behüten, wenn wir unterwegs sind. Berlin pulsiert weiter in meinem Herzen. Ich habe es in mich aufgesogen, bin ein Teil davon und werde dort immer den sprichwörtlichen Koffer stehen haben.
Zuletzt möchte ich noch gerne wissen, was Ihre Lieblingsalben, Lieblingslieder und Lieblingsbücher sind, ohne die das Leben für Sie ein Irrtum wäre?
Ich liebe alles von Elvis, Ella, Ellington, Mozart und Bach. Am liebsten lese ich Künstler-Biographien, z.B. über Fritzi Massary und Fritz Grünbaum, auch zwei meiner Helden, die heute zumindest in Wien noch einigen bekannt sein dürften. Krimis lese ich auch gerne. Zurzeit bin ich süchtig nach den Büchern von Bühnenkollege Dietrich Faber und kann es kaum erwarten den dritten Band zu lesen. Ein Irrtum wäre für mich das Leben auf jeden Fall ohne Musik, ohne gutes Essen und ohne Hund. Loriot meinte damit den Mops, bei mir ist es mein Tigerdackel Trüffel, genannt Mausi-Mausi.
Vielen Dank für die Beantwortung der Fragen!
Ich bedanke mich für diese sehr schönen Fragen, deren Beantwortung mir großen Spaß gemacht hat. Ich freue mich auf Wien! //
Live-Tipp:
Evi Niessner & Thomas Teske
100 Jahre Piaf - Chanson Divine
Interview: Manfred Horak
Fotos: Katharina Dubno
Das Interview entstand im Vorfeld zum Auftritt im Stadtsaal Wien am 17.4.2015.